Sonntag, 20. Dezember 2015

Ein Brief. Der Wahrheit ins Gesicht blicken


Der Brief lag unschuldig im Briefkasten. Ich hatte schon darauf gewartet, ja, ich hatte ihn sogar angefordert. Aber dann zögerte ich. An dem dunklen Adventsabend, als ich die Post nach einem langen, kalt-feuchten Tag aus dem Briefkasten nahm. Ich sah ihn sofort. Absender: Bundesarchiv. Langsam lief ich die Einfahrt entlang, vom Briefkasten zur Haustür, schloß auf, trat ein und verschloss die Tür sorgfältig. Ich behielt Schuhe und Jacke an, legte meine Tasche und die anderen Briefe zur Seite und setzte mich an den Küchentisch, um den Brief zu öffnen.

Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Estland, sie gehört zu den Baltendeutschen. Meine Familie väterlicherseits kommt aus Tschechien, sie gehört zu den Sudetendeutschen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind beide Familien – was von ihnen übrig war: Mütter und Kinder – irgendwann und irgendwie in Süddeutschland gelandet. Dort haben sich dann einige Jahre später meine Eltern getroffen und mein eigener Lebensweg begann.

Als es in der Schule um den Geschichtsunterricht ging und ich vage erfassen konnte, was im Ersten und Zweiten Weltkrieg passiert ist, konzentrierte sich mein Interesse auf die Gräueltaten der Nazis. Was muss das damals für eine Schreckensherrschaft gewesen sein? Was für eine Parteiideologie? Wie konnten sich Menschen zusammentun und Angst und Schrecken verbreiten – ganz abgesehen von der menschenverachtenden Ideologie und dem Holocaust? Ich war entsetzt. Und sicher, dass meine Familie nichts damit zu tun hätte.

Dass ich jedoch auch nicht aus einer Familie von Widerstandskämpfern kam, wurde mir irgendwie auch klar. Das wäre natürlich klasse gewesen. Eine Nachfahrin von jemandem zu sein, der das eigene Leben eingesetzt hat um die Familie, die Deutschen, ja die Welt vom Hitlerregime zu befreien. Stolz zurück zu blicken und sich im Strom von mutigen Weltverbesserern zu wähnen. Nein, keine Widerstandskämpfer in meiner Familie, soweit ich das damals in Erfahrung bringen konnte.

Im Gegenteil, es war ja so, dass beide Familien am Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Opfern des Naziregimes gehörten. Sie wurden vertrieben, mussten ihre Heimat verlassen. Von einem Tag auf den anderen mussten sie fliehen, 1945, vor den neuen Machthabern. Mit dem Bollerwagen musste meine Großmutter mit ihren beiden Jungs um ihr Leben laufen, Tage-, Wochen-, ja Monatelang. Man konnte gerade überleben. Und hat jeglichen Besitz zurücklassen müssen. Nichts blieb als das nackte Leben. So war mein Bild.

Jahre später, ich war längst erwachsen, reiste ich sowohl nach Tschechien als auch nach Estland und suchte die verlorene Heimat meiner Großeltern. Großbürgerlich war es zugegangen, in beiden Fällen. Einst prächtige und herrschaftliche Häuser waren in erbarmungswürdigem Zustand zu betrachten. Die alten Fotografien ließen jedoch keinen Zweifel, wir hatten die richtigen Gemäuer gefunden.

In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben damals aussah, kam durchaus die Frage auf, wie sich die Großväter zu dem damals regierenden Regime verhalten hatten. Da sie aber beide keine aktiven Kriegsteilnehmer waren, sondern auch während des Krieges ihren Beruf ausübten, wurde das Bild gestärkt, dass sie harmlose, unschuldige Mitbürger in einer schwierigen Zeit waren. War das richtig, konnte man auf so herausgehobenen Posten kein aktives Verhältnis zu den Machthabern haben? Lange schob ich den Gedanken beiseite.

Aber die Frage meldete sich immer wieder. Und vor einigen Wochen schrieb ich dann eine kurze Mail an das Bundesarchiv, um anzufragen, ob meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits möglicherweise Mitglieder in der NSDAP waren. Und selbstverständlich erhoffte ich mir eine negative Antwort. Nun lag das Ergebnis, verschlossen in einem Briefumschlag auf meinem Küchentisch.

Ich öffnete den Brief. „…ermittelt wurden drei Mitgliederkarteikarten, die Ihnen anliegend in Kopie zugehen“. So. Da stand es. Schwarz auf weiß. Beide Großväter und eine Großmutter waren Mitglieder in der Partei. Das, was ich bislang denken konnte, zu denken bereit war, rutschte mir nun ins Herz. Sofort regten sich Gefühle. Mein Herz schlug. Mein Kopf relativierte akrobatisch. Ja, damals… Da musste man ja… Fast jeder war Mitglied… Es gab Zwänge… Wie hätten sie sonst auf solchen Posten arbeiten können… Alles längst vorbei… Jedoch: Schau der Wahrheit ins Gesicht!

Und ich sah der Wahrheit ins Gesicht. Und nicht nur das. Ich fühlte die Wahrheit auch mitten in mir. Als Kriegsenkel bin ich längst dafür sensibilisiert. Das Aufeinandertreffen von Ideal und Wirklichkeit ist es, das schwierige Gefühle entstehen lässt. Mit der Geschichte der Opfer-Familie ist es nun endgültig vorbei. Wenn auch (vielleicht?) keine aktive Täterschaft, so doch Mittäterschaft. An meinem Selbstverständnis als aufgeklärte Bürgerin des 21. Jahrhunderts rinnen familiär braune Kleckerflecken herunter.

Die entstandene Stille, ich saß noch immer mit Jacke und Schuhen am Küchentisch, gebar die Frage, ob es meinen Großeltern gegenüber vielleicht indiskret war, dass ich den Rechercheauftrag ans Bundesarchiv gegeben hatte. Wollte ich das Ergebnis wirklich wissen? Und, wie ist das nun für meine Großeltern? Denn zu Lebzeiten haben alle Beteiligten über diesen Teil ihrer Geschichte geschwiegen. Ganz fest geschwiegen. Aus Wut? Aus Scham? Aus Unverständnis politischer Strukturen, Naivität?

Sie sind alle schon lange tot. Und doch leben sie in mir, meine Großeltern – auch wenn ich die Großväter nie kennengelernt habe. Die folgende Nacht war ich meinen Großeltern sehr nah. Und am Morgen erwachte ich mit dem Gefühl der Entlastung, der Vergebung. Das kalte Licht der finsteren Wahrheit über den Jahren des Schreckens wird wärmer und das Gefühl der Befreiung von dem ungemütlichen und schäbigen Geheimnis macht sich breit. Auch dunkle Seiten gehören zum Leben. Meine Großeltern waren dabei, haben mitgemacht und mitgelitten. Strafe war das allemal. Nun kann vergeben und verziehen werden und die nächste Generation kann ihre Urteilskraft schärfen, um nicht ähnlichen Wahnbildern zu verfallen.

Den Brief des Bundesarchivs lege ich zu den vielen Rechercheergebnissen, zu den Fotos und Briefen, den Landkarten und Erinnerungen die ich von meinen Vorfahren habe. Auch diese Wahrheit gehört dazu.

Sonntag, 4. Oktober 2015

Die stumme Sprache eines Friedhofs. Auf der Suche nach Gräbern in Dorpat


Ich war am Morgen auf dem Friedhof gewesen. Hatte mich am Abend vorher durchgefragt und die Zeichen offensichtlich richtig gedeutet, denn ich war dort gelandet, wo es eine unendliche Menge von deutschen Namen zu lesen gab. Es ist der große, alte, evangelische Friedhof, auf dem die Deutschen beerdigt liegen. Am Rande der Altstadt sah ich morgens schon vom Ufer des Embachs eine Stelle, an der sehr viele große alte Bäume beieinander stehen. Fast sah es von weitem wie ein kleiner Wald in der Stadt aus. Dorthin fahre ich. Den Mietwagen stelle ich auf dem Parkplatz des Supermarkts ab. Direkt daneben ist der Eingang zum Friedhof. Alte und neue Zeit wohnen nebeneinander, Tür an Tür. Ich tauche ein in ein unendliches Meer aus Grün, wieder einmal. Grüne Stille. Und ich spüre: alte Stille. Die Sonne blitzt zwischen den Blättern hindurch. Die großen und mächtigen Bäume bilden die Festpunkte in dem Areal der Toten. Die Geräusche der Stadt verklingen, ich höre eine Amsel.

Meine Schritte aber sind kaum zu hören. Moos schmiegt sich um jeden der Pflastersteine, dazwischen Gras – die Erde ist fruchtbar. Ich tauche in eine andere Welt ein. Hier liegt die Vergangenheit, sie ruht. Ich laufe zwischen Himmel und Erde durch das Reich der Pflanzen. Gras, Farn, Büsche und Bäume, sehr hohe Bäume – sie decken die Vergangenheit zu. Die schmalen Wege zwischen den Gräbern wirken wie Adern. Gräber, darunter die Toten, darüber Grabsteine, Grabkreuze, Grabmale stehend, sitzend, liegend – umgefallen, überwuchert, moosbewachsen. Die Welt des Vergessens und die des Erinnerns treffen aufeinander. Es sieht so aus, als ob die deutschen Gräber alle noch da sind, aber eben nicht gepflegt wurden. Von wem auch? Die Deutschen wurden 1939/40 verjagt, weil Hitler und Stalin ihre eigenen Pläne hatten, die Öffnung des eisernen Vorhangs liegt noch nicht so weit zurück – alles braucht Zeit, die Toten haben sie. Generationen haben einander überlebt, die Zeit elastisch überdauert. Der Friedhof macht gerade das sichtbar. Die Todesdaten der deutschen Gräber reichen bis ins Jahr 1940 – erst eine ganze Generation später können die Fäden wieder aufgenommen werden.

Ich laufe durch die große Anlage. Überall deutsche Namen – dort, wo ich sie lesen kann. Bibelzitate, Daten, Fakten, Wünsche, Hoffnungen… Im Tod sieht das Leben anders aus. Für Sterbende, Verstorbene und Lebende. Hilde Domin sagt es in einem ihrer gewaltigen Gedichte: die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten. Ja, hier sind sie versammelt – die unverlierbaren Toten. Alle sind sie da. Aber was weiß ich von ihnen? Wer sind sie? Freunde meiner Vorfahren, Nachbarn, Geschäftspartner, ja vielleicht sogar Konkurrenten oder Feinde? Ich lese Namen um Namen – deutsche Namen aus einer alten Zeit. Aber ich finde keinen Grabstein mit dem Namen Schulz. Ich müsste anfangen das Moos abzukratzen, Steine umzudrehen, aufzustellen… Dennoch bin ich sicher, dass meine Familie hier anwesend ist. Ihre Gräber müssen hier sein. Irgendwo. Jedenfalls will ich es so. Anders kann ich es nicht denken. Ich setze mich auf eine Bank und lasse meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf.

Ich stelle mir vor, wie meine Großmutter schon als Kind immer wieder auf diesen Friedhof geführt wurde. Zum Sonntagsausflug. Von der anderen Seite der Stadt, über den Embach. Wahrscheinlich noch mit der Kutsche. Die Toten leben weiter, wenn wir uns ihrer erinnern. Ich kenne all die Menschen aus den Erzählungen meiner Großmutter, irgendetwas wispern sie. Ich höre ihre nie gehörten, stummen Stimmen, wenn ich mir die Namen bewusst mache. Da war die kleine Schwester meiner Großmutter, Gertrud. Sie ist als Kind gestorben, kurz vor ihrem sechsten Geburtstag. Scharlach hat sie dahingerafft. Es gab noch kein Antibiotikum. Meine Großmutter hat sie gar nicht gekannt, sie wurde erst zwei Jahre nach ihrem Tod geboren. Und dennoch erzählte sie mir von ihr. Immer und immer wieder. Die kleine Gertrud. Irgendwo muss ihr Grab sein. Und das ihrer Eltern. Meiner Urgroßeltern. Arthur und Emma Schulz.

Im Friedhofsbüro frage ich nach den Gräbern von Familie Schulz. Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe, aber ich möchte sie finden. Die Dame hinter dem Tresen sucht ihr digitales Verzeichnis durch. Sie will Vornamen, Jahreszahlen. Wir klären, wie der Name geschrieben wird. Nichts. Nein, sie findet nichts. Entschuldigend erwähnt sie aber, dass nicht alle Gräber verzeichnet seien – zu viel sei der wuchernden Natur anheimgefallen. Und dann sagt sie noch etwas von EU-Geldern, die vielleicht kommen würden und davon, dass ich nicht die einzige sei, die alte Gräber suche. Und dass sie schon viel geschafft hätten und dass Estland noch viel vor sich habe. Ich bedanke und verabschiede mich. Und ich laufe weiter über den alten Friedhof. Nichts zu finden. Es ist doch alles schon so lange her. Trotzdem habe ich das Gefühl inmitten eines Geschehens, irgendwo hineingeraten zu sein. Ich bin wach und schläfrig zugleich. Die vielen alten Gräber erwecken einen Raum in mir, den ich selber noch nicht kenne.

Hinter den wenigen Angaben auf den Steinen verbergen sich ganze Biographien – Höhen und Tiefen, persönliche Geschicke, Zeitereignisse, politische Gegebenheiten mit Kriegen, Gesetzen und Beschlüssen, die sich im Schicksal des Einzelnen niederschlagen – zusammengefasst in einen Namen sowie ein Geburts- und Sterbedatum. Mehr ist es nicht. Aber: Jeder Verstorbene war in ein Familien- und Beziehungsgeflecht eingebunden, über Nachwuchs und Seitenlinien generieren sich lange Erbbänder, die die Geschichte weitertragen und entwickeln. Was habe ich mit meinen Vorfahren zu tun, sind nicht meine heutigen Freundschaften und Verbindungen viel wichtiger? Es heißt, dass sich transgenerationale Vererbung über fünf Generationen zurückverfolgen lässt sowie, dass die Intentionen und Motive eines Lebens fünf Generationen in die Zukunft hinein von Bedeutung sein können.

Freitag, 4. September 2015

Oh, from that Schulz-Family you are? Das Fotographisch-Artistische Atelier von Carl Schulz in Dorpat (Tartu)

Das Land ist alt und leicht zugleich. Die Landschaft ist grün, sehr grün und lädt zum Verweilen ein. Parkähnlich stehen die Bäume im Verbund mit den Wiesenflächen und überdauern die Zeit. Kleine Flüsse mäandern durch die flachen Weiten und münden in stille Seen. Sehr friedlich geht es zu, obgleich auch hier der Boden mit Blut getränkt ist. Wechselnde Machtverhältnisse, Missionare, Okkupationen, Eroberer, Besatzer – die Esten haben schon viel mitgemacht und sind unendlich froh und stolz, dass sie seit 1991 endlich wieder ein souveräner Staat sind.

Es ist nicht ganz einfach, den alten handgezeichneten deutschen Stadtplan mit dem neuen estnischen Druck - in unterschiedlichem Maßstab - überein zu bringen. Jedes estnische Wort ist schier unaussprechlich und heftet sich nur schwer ins Gedächtnis. Aber schließlich finden sich die gesuchten Straßen und der Ort des Hauses lässt sich rekonstruieren. Das alte Stadtbild – innerlich entstanden durch alte Fotographien, Erzählungen und die eigene Phantasie – weicht vom heutigen ab, aber die Straßen sind, wenn auch mit neuem Namen, geblieben.

Hier also hat das Leben über mehrere Generationen stattgefunden. Dort, wo jetzt ein neuer schwarz-glänzender Klotz steht, hat das eine große Holzhaus samt Atelier tatsächlich bis zu den Bomben des Zweiten Weltkriegs gestanden. (Den anderen Ort neben der Universität kannte ich schon.) Meine Großmutter wurde in der Gartenstraße 3 geboren und hat bis 1939 dort gelebt, meine Urgroßeltern haben in dem Haus ihr Leben gestaltet und mein Ururgroßvater hat es wohl erworben. Mitten im alten Stadtkern – in einer anderen Zeit. Ich laufe mit einem Doppelblick durch die Stadt und fühle mich seltsam aufgehoben.

Auf der schmucklosen Brücke über den Embach, die Sowjetzeit lässt grüßen, steht eine Fotoausstellung mit großen Plakatwänden. Hier gibt es alte Stadtportraits zu sehen, vom diesseitigen und vom jenseitigen Ufer. Und als mein Auge auf die unverständlichen Buchstabenkombinationen fällt, springen mir bekannte Worte entgegen: Carl Schulz. Und immer wieder: Fotograf: Carl Schulz. 1870, 1890, 1999, 1910 und so weiter. Die Bilder stammen aus dem Atelier meiner Familie und zeigen die kleine, prächtige Stadt vor langer Zeit.

Plötzlich ändert sich die Farbe des Lichts für mich. Ich bin keine schlendernde Touristin unter dem nördlichen Sommerhimmel mehr, sondern spüre wie der Gang der Zeit mich erreicht. Ich schaue nicht mehr nur noch, sondern empfinde dabei, dass die Vergangenheit da ist. Trotz der gesteigerten Wachheit breitet sich eine Ruhe aus. Und es kommt noch intensiver. Im Stadtmuseum wird für uns die Kuratorin gerufen, die nicht schlecht staunt, dass wir die Nachfahren der Schulz-Fotografen-Familie in Dorpat sind. Nicht nur, dass sie die Bilder des Ateliers kennt, sondern gerade sie hat die Fotoausstellung kuratiert. Sie nennt uns die Orte, wo wir Relikte finden, rät uns, ins Archiv zu gehen.

Und im Archiv werden wir bereits erwartet. Es gibt alte Unterlagen der Familie zu besichtigen, aber vor allem mit einem jungen Esten in Kontakt zu kommen – er spricht perfekt Deutsch! – der seine Magisterarbeit über die drei Fotografengenerationen Carl, Arthur und Dagmar Schulz schreibt. Als wir in sein Büro kommen öffnet er erst einmal unseren Stammbaum auf seinem Computer – und dieses Mal sind wir es, die nicht schlecht staunen. Er öffnet Dokument um Dokument – Abschlusszeugnisse meiner Großmutter, Fotos, Anzeigen… Er kennt sich aus in unserer Familie – hat aber auch einige Fragen an uns, die sich durch die Unterlagen in den staubigen Archiven nicht erschließen.

Wir sitzen in einem Gespräch, von dem wir nicht annahmen, dass es überhaupt je stattfinden könnte. Da interessiert sich jemand für unsere Familiengeschichte, da sie Teil der fotographischen Stadtgeschichte ist und schreibt seine Magisterarbeit darüber. Was ist in den Jahren 1937-39 geschehen, wohin ist Dagmar Schulz gegangen, als das Atelier verkauft wurde, hat sie weiterhin selbstständig gearbeitet? In Deutschland gibt es eine „Grüne Kiste“ – darin liegen Aufzeichnungen, Fotos, Pläne, Schriftstücke, Gutachten, Beglaubigungen… Hätten wir sie nur hier!

Die familiären Wurzeln wurden durch den Wirbel des Zeiten Weltkrieges im Baltikum gekappt. Ich habe bislang mit Luftwurzeln gelebt und mich immer wieder gefragt, in welche Richtung ich sie neigen solle. Nun aber können Erd- und Luftwurzeln zusammen kommen und, zumindest geistig, wieder einen gemeinsamen Festpunkt bilden. Die Recherche in Dorpat geht weiter (die sich auch auf die Filialen in Riga, Libau und Majorenhof erweitern ließe) – gespannt erwarten wir die Arbeit über das Fotographisch-Artistische Atelier von Carl Schulz, das über drei Generationen von meiner Familie geführt wurde (yes, I belong to this Schulz-Family!), bis Hitler und Stalin einen Pakt geschlossen haben, der die alte Zeit brutal in eine neue verwandelt hat.

Freitag, 28. August 2015

Von der Auswanderung zur Flucht - Baltendeutsche über drei Generationen


Im Osten Europas schienen die Arbeits- und Lebensbedingungen vielversprechend zu sein, so dass sich mein Ururgroßvater aus Süddeutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts entschloss in den östlichen Norden Europas auszuwandern. In Estland eröffnete er damals eines der ersten und prominentesten Fotoateliers, das über drei Generationen fortgeführt wurde. Mein Ururgroßvater wurde im „Ausland“ unmittelbar als Unternehmer geachtet und gehörte direkt der oberen Gesellschaftsschicht an. Er erwählte Dorpat in Estland zu seiner neuen Heimat und verband sich mit ihr tief.

Soweit ich das beurteilen kann muss das Leben dort angenehm gewesen sein. Die Deutschen machten damals in dem „deutschen“ Universitätsstädtchen etwa ein Drittel der Bevölkerung aus. Jeder sprach mehrere Sprachen: zu Hause unterhielt man sich auf Deutsch, mit den Gästen wurde Französisch gesprochen, mit dem Dienstpersonal sprach man Estnisch, in der Schule wurde auf Russisch unterrichtet. Als Deutscher lebte man gut bis sehr gut.

Carl Schulz stand einem erfolgreichen und florierenden Fotoatelier vor, neben dem Hauptgeschäft hatte das Atelier mehrere Dependancen in weiteren Städten, und noch heute finden sich Fotos von ihm, die zu formidablen und horrenden Preisen angeboten werden. Er hatte eine Familie mit acht Kindern – der älteste Sohn übernahm in geeignetem Alter selbstverständlich das Geschäft.

Als dieser zu früh starb, er erblindete und nahm sich das Leben, so dass er auf dem deutschen Friedhof beerdigt wurde, übernahm sein jüngerer Bruder das Atelier, mein Urgroßvater, Arthur Schulz, und lebte mit seiner Familie, sechs Kinder, weiterhin in Dorpat in der Gartenstraße 3. Das Atelier blühte seit Jahren. Der Erste Weltkrieg brachte allerdings einige Umstrukturierungen, das Land wurde nicht mehr von der russischen Zarenkrone regiert, sondern war für einige Jahre ein freier estnischer Staat geworden. Etwa die Hälfte der Deutschen ging fort, aber es blieben so viele, dass ein kulturell anspruchsvolles Leben weiterhin möglich war.

Meine Großmutter wurde bereits 1897 geboren. Ihr Selbstverständnis war bis ins hohe Alter das einer Baltendeutschen – sie lebte (die Hälfte ihre Lebens) in Estland auf deutsche Art und liebte ihre Heimat über alles. Ihr Studium machte sie in Berlin – so wie sie sowieso ständig auf Reisen war. Ein Jahr in der Schweiz zu verbringen war ganz normal. Zwischen Berlin und Dorpat ist sie immer wieder hin und her gefahren. Sie arbeitete bis 1939 als Fotografin weiter, ihr Vater war 1921 verstorben, dann rief Hitler die Baltendeutschen in die neueroberten Gebiete im „ehemaligen“ Polen. Die Wahlheimat musste aufgegeben werden, eine erzwungene Umsiedlung stand an…

…die nach den Kriegsjahren in eine Flucht mündete und alles endgültig zerstörte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 brachen deutsche Flüchtlingsströme Hals über Kopf auf, um aus den östlichen Gebieten weiter in den Westen zu ziehen. Während die Umsiedlung noch halbwegs geordnet stattfand, ging es nun nur noch um das Überleben – materieller Ballast konnte nur bedingt mitgenommen werden. Die dritte Generation der Fotografenfamilie in Estland musste endgültig alles hinter sich lassen und „in Restdeutschland“ neu beginnen.

So flüchtete meine Großmutter mit ihrer kleinen Tochter von Ost nach West – „zurück“ nach Deutschland, aus dem einst ihr Großvater ausgewandert war. Diese Flucht war alles andere als ein Spaziergang sondern begleitet von Angst, Bedrohung und gefährlichen Aktionen sowie dem materiellen Verlust jeglichen Besitzes. Die Baltendeutschen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Herkunftsland, dessen Sprache sie sprachen, dessen Kultur sie lebten und dessen Ideale sie in der Fremde gelebt hatten.

Fremd in der Heimat? Ganz Europa wurde bevölkerungstechnisch gesehen umgekrempelt und musste sich neu konstituieren – womit wir offensichtlich bis heute beschäftigt sind. Die Zeit der eigenen Aufarbeitung scheint auf Grund der aktuellen Lage dringend notwendig – denn nun sind es die Flüchtlingsströme aus dem Süden, die bei uns ankommen und dringend Hilfe benötigen. Das Wort „flüchten“ kommt ursprünglich von „davonspringen“ (aus der Jägersprache) und hat einen dramatischen Charakter der durch die mitschwingende „Lebensgefahr“ jeglichen Spielcharakter verloren hat.

Ich resümiere: Auch ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie. Obwohl ich nie geflohen bin und schon immer in meinem Heimatland lebe. Meine Staatsangehörigkeit ist deutsch. Und auch die meiner Eltern ist deutsch. Sie wurden allerdings nicht auf deutschem Boden geboren, sondern in europäischen Gebieten, die im letzten und vorletzten Jahrhundert von Deutschen seit Generationen besiedelt waren. Warum ist es so schwer den eigenen Ort zu finden – sitzt die Angst vor einer Flucht auch noch der Enkelgeneration so in den Knochen, dass sie mit ihren eigenen Fragen hinterherhinkt?