Sonntag, 28. September 2014

Zwischen Geschichten und Alltag. Über Erzählungen


Sie schlüpft in Geschichten. Nimmt sich einen Roman nach dem anderen vor und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die geschriebenen Worte, die Geschichten der anderen. Sie schaut nach innen. In ihr Buch und auf das, was die Geschichten in ihr auslösen. Sie lebt mit Protagonisten mit, die in der DDR gelebt haben und in den Westen gekommen sind, auf Hiddensee Unterschlupf und sich selbst finden, in London auf einer Brücke stehen, als in Island ein Vulkan ausbricht und den europäischen Flugverkehr einschränkt oder von Wien nach Frankfurt reisen und doch nicht den Buchpreis erhalten, jedoch den unbekannten Vater treffen.

Geschichten, die von Autoren geschrieben wurden, die sie nicht kennt. Geschichten aber, deren Protagonisten sich in ihrer Seele ausdehnen, obwohl ihre Leben nur in Ausschnitten auf einer begrenzten Zahl von Seiten durch einen Dritten präsentiert werden. Dennoch ist die Wirkung enorm. Das Wohl und Wehe der Figuren verbindet sich mit eigenen Erfahrungen oder Vorstellungen, mit dem Leben ihres Umkreises, ihrer Freunde und Kollegen, ihrer Familie oder ihren Nachbarn. Die Geschichten werden zu einem Teil ihrer selbst, ihres Innenraums, in dem Figuren (oder Menschen?) einander begegnen, die sich im äußeren Leben noch nicht einmal begrüßen würden - geschweige denn von der gegenseitigen Existenz wüssten.

Während laut DUDEN das Wort "Geschichte" ein "politischer, kultureller und gesellschaftlicher Werdegang, Entwicklungsprozess eines bestimmten geographischen o.ä. Bereichs" ist und damit auf eine mehr oder weniger objektive Erzählung der Vergangenheit beschränkt wird, erlaubt die Bedeutung des Wortes "Geschichte" als Erzählung eine "mündliche od. schriftliche, in einen logischen Handlungsablauf gebrachte Schilderung eines tatsächlichen od. erdachten Geschehens, Ereignisses", auch die Zukunft, in der dieses oder jenes geschehen könnte - auch, wenn die Erzählung in der grammatikalischen Vergangenheitsform präsentiert wird.

Geschichte liegt fest - abgesehen von der Frage, ob sie angemessen betrachtet und interpretiert wird - während Geschichten ungeahnte Möglichkeiten festlegen. Das Unmögliche wird möglich, das Erwünschte wahr, das Hässliche schön - oder umgekehrt. Ein "logischer Handlungsablauf" (siehe oben) ist mitnichten notwendig, um eine Geschichte zu erzählen (so ihre Überzeugung!), ein Ereignis in schriftlicher oder mündlicher Form zusammenzufassen und Dritten (die nicht dabei gewesen sind) zu offerieren. Stunden, Tage oder Jahre von Ed, April, Nelia Fehn oder der namenlosen Icherzählerin gehören jetzt zu ihrem inneren Inventar (zugegeben, es hat mitunter panoptischen Charakter), wobei die Ränder zwischen ihrer Innen- und Außenwelt nicht unbedingt scharf geschnitten sind.

Avancen machen ihr all jene, die sich zeigen ohne zu urteilen, die ihr Ding machen und trotzdem sanft agieren. Die irgendwie in ihren Bemühungen, die mitunter nicht unbedingt erfolgversprechend aussehen, weitermachen, ohne dass Seiten an das Buch angeklebt werden, ohne dass der jeweilige Autor einen zweiten Band herausgibt. Figuren erwachen dann zu einem eigenständigen Leben wenn sie Anknüpfungspunkte bieten, wenn sie sich in Frage stellen lassen. Wenn sich ein innerer Dialog zwischen ihr und ihnen ergibt, ist eine Realität geschaffen, die nach dem Tod einen Grabstein verdient.

Der deutsche Bücherherbst bietet eine Menge an richtig guter Literatur, die schon mal vergessen lassen kann, was im sogenannten realen Leben vor sich geht. Manche Zitate bereichern den Alltag allerdings in der Weise, dass ihre Neugier erwacht, wie die Autoren zu dieser oder jener Erzählung respektive Formulierung gekommen sind. Was offenbaren Autoren von sich selbst durch die Geschichten, die sie erzählen?

Montag, 15. September 2014

Das Ende des Sommers und eine Frau


Als sie aus dem Flugzeug stieg, war der Sommer vorbei. Irgendetwas in ihrer Tasche, die sie über ihre Schulter geschwungen hatte, drückte gegen ihre Seite. Wie immer hatte sie Bücher im Schlepptau, vermutlich hatte sich eins quergelegt. Es war eng in diesem Gang und die kühle Luft aus der Klimaanlage wand sich ihre nackten Waden hinauf. Die Frau vor ihr benutzte ein strenges Parfüm und nestelte an ihrer Bluse herum, die Kontrolle der Pässe dauerte ungewöhnlich lang. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und fror. Ungebührliches Warten war nicht ihre Stärke.

Als sie endlich an der Espressobar stand, ein Doppio kostete hier vierachtzig, sah sie das Paar des gestrigen Abends wieder - zwei selbstvergessene Männer, deren Innenwelt augenscheinlich nicht mit der äußeren kongruent war - die beiden redeten weiterhin aufeinander ein, als gäbe es zur Belohnung ein Eis am Stiel. Geht dem Schreiben das Reden voraus? Die Frage des Schreibens war an das Vorhandensein einer Leserschaft geknüpft. Texte ohne Leser sind graue Schattengestalten, die sich mit billigem Mineralwasser zufrieden geben, an statt Champagner zu fordern.

Sie hatte nicht bemerkt, dass die beiden Männer offensichtlich in ihrem Flugzeug gesessen haben mussten. Oder gab es innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehrere Flüge mit dem gleichen Ziel? Etwas verschränkte sich in ihr, obgleich der gestrige Abend in einem komplett anderen Kontext gestanden hatte. Fremde Räume verschoben sich mit Zeiten, die nicht ineinander griffen. Messerscharf galoppierte die Frage auf sie zu: Wovon hängt das Reden ab?

Die junge Frau neben ihr schwieg beredet in sich hinein. Augenscheinlich war, dass sie in ein innerliches Gespräch verwickelt war, das mitunter von langen traurigen Pausen durchzogen war - ihre Augen glänzten, aber es war noch keine Träne zu sehen. Was war geschehen? Die Kellnerin hingegen tanzte von einem Gast zum nächsten und verteilte fröhliche Floskeln, wünschte gute Flüge, schöne Ferien - sie schien eine Schatztruhe mit sonnigen Sehnsüchten zu besitzen, aus denen sie freizügig verteilte. Das ganze Leben ein Dialog? Sie musste an Buber denken. Das Ich im Du, nein, das Ich durch das Du.

Erst einmal musste sie die Tatsache verwinden, dass der Sommer verschwunden war, bevor sie sich dem Abhängigkeitsgrad von Schreiben, Leben und Reden ergeben konnte. Ohne Abschiedsgruß war der Sommer von der Bildfläche verschwunden, sie musste es hinnehmen - auch wenn sich ihrem Herzen eine Klage entwand, die mit dem lauen Titel "Sommer ohne Abschied" locker einen Roman ergeben hätte, in dem Vorwurf an Vorwurf gereiht werden könnte. Nein. Sie wollte Tacheles reden - brachte aber nicht ein Wort hervor, da sich keine linearen Gedanken präsentierten .

Sie schrak aus ihren verworrenen Tagträumen, als sie ihren Namen über den Lautsprecher hörte. Last call. Da redete jemand - während sie träumte. Sie musste zu Gate 18. Sofort. Wenn sie noch ins Flugzeug wollte. Keine Frage war beantwortet. Was war mit den Männern, mit der jungen traurigen Frau, der ständig lächelnden Kellnerin? Sie wusste nichts - hatte nicht gefragt, keine Geschichte hatte sich etabliert . Und deshalb war auch kein Wort niedergeschrieben worden. Die Leser würden also kein Futter bekommen, sondern nur eine leere weiße Seite, wenn sie nicht...

Die Zeit zwischen den Flugzeugen war definitiv um. Landen und abfliegen gehörten hier zum guten Ton. Sie erschrak ob der Alltagsroutine, der sie sich nicht gewappnet fühlte. Irgendetwas funktionierte aber in ihr, so dass sie gerade noch rechtzeitig ans Gate kam und durch den menschenleeren Flur laufen konnte. Im Flugzeug klappte sie ihren Laptop auf und begann mit der Geschichte. Sie schrieb: Als sie aus dem Flugzeug stieg, war der Sommer vorbei...