Montag, 25. November 2013

Christiane zu Salm: "Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben"


Die Aufgabe lautete in etwa: „Stellen Sie sich vor, dass Sie übermorgen sterben. Unwiderruflich. Schreiben Sie einen Nachruf auf sich selbst. Jetzt. Sie haben fünfzehn Minuten Zeit.“ So erzählt die Autorin, wie sie darauf kam, mit Sterbenden zu sprechen und deren eigene Nachrufe zu veröffentlichen. Sie sprach mit Menschen, die auf Grund von Alter oder Krankheit kurz vor ihrem Lebensende stehen. Mit Menschen, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind, sondern ein „ganz normales“ Leben geführt haben.

Die eigenen Nachrufe, die die Sterbenden der Autorin diktiert haben, sind kurz, zwei, drei Seiten lang. Und sie enthalten das, was diejenigen, die kurz vor dem Tod stehen, über ihr Leben sagen wollen. Können. In der Retrospektive, die keine Änderungen mehr ermöglicht, keine Zukunft mehr beinhaltet, sondern nur noch den Blick zurück gestattet und manchmal danach fragt, was anders hätte laufen können, sollen.

Erste Sätze:
„Ich bin unendlich wütend. Sauer auf das Leben, sauer auf das Sterbenmüssen.“ „Der besondere Glücksmoment in meinem Leben war, als ich meinen dritten Mann kennenlernte.“ „Die einzig schöne Zeit in meinem Leben war meine Kindheit.“ „Ja, ich bin im Großen und Ganzen zufrieden mit dem, was ich erschaffen habe.“ „Ich bin Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, weil ich für mich die Freiheit in Anspruch nehme, mein Leben und Sterben selbst zu bestimmen.“ „Meine Rettung ist, dass ich frühzeitig Buddhist wurde, schon mit zweiundzwanzig.“

Sichtbar werden Menschen, die nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen haben, sondern die einfach da sind und sich ungeschönt über ihr eigenes Leben äußern. Offen, ehrlich, verzweifelt, verlegen. Im Leben sind wir es gewöhnt von anderen bewertet und beurteilt zu werden, in den Nachrufen geht es aber gerade darum, sich selbst zu beschreiben, sich selbst zu positionieren, manchmal auch sich selbst zu richten – der Nachwelt zu berichten.

Letzte Sätze:
„Es tut gut, dass es jetzt raus ist. Aber jetzt ist es auch zu spät.“ „Das Akzeptierenkönnen dessen, was ist, das ist das Geheimnis.“ „Sie sollen sich oft im Leben etwas trauen, vor allem sich selbst.“ „Denn nach dem Tod kommt sowieso nichts mehr.“ „Ich könnte Regine um Verzeihung bitten, und die Sache wäre vorbei.“ „Ich will weg, rin in die Grube und vorbei.“ „Bleibt mir bitte wohlgesonnen, auch über meine Zeit hinaus.“

Ein Buch von Sterbenden für Lebende, ein Buch über das Leben, gelebtes Leben. Ein Buch, das sichtbar macht, wie kostbar das individuelle Leben ist, wie kompliziert und auch wie phantasievoll. Zeitgeschichte wird sichtbar, gesellschaftliche Prägungen, Werte und Normen aus der Kindheit, die als Erwachsene verwandelt und individualisiert werden müssen, damit sie zu eigenen Werten und Normen werden, die aber nicht immer mit denjenigen der Umgebung zusammenstimmen.

Die Berichte rütteln auf und machen zugleich still. Was würde ich schreiben, wenn ich fünfzehn Minuten für einen Nachruf auf mich selbst hätte? Und was würde ich schreiben, wenn ich fünfzehn Minuten dafür Zeit hätte zu beschreiben, was ich in meinem Leben noch machen, erreichen, erleben und sehen will? Das Buch blickt zurück und hinterlässt mich als Leserin mit einem Blick nach vorne – das Leben gestalten und in die Hand nehmen, es könnte auch schnell vorbei sein.

Christiane zu Salm: Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben. Goldmann Verlag, München, 3. Auflage, Oktober 2013.

Montag, 18. November 2013

"Vögel mit Wurzeln"- Worte im freischwebenden Raum

Themen verbergen sich, Worte verweigern sich – die Stille umhüllt. Meine Gedanken wandern hierhin und dorthin, ich versuche einen Zipfel zu erhaschen, denke „ja, hier – da! – dort kann ich andocken, daran kann ich weitermachen“. Aber dann entschwinden sie wieder. Die Ideen, die Anknüpfungspunkte – Gedanken werden schal, schmecken lauwarm und verziehen sich in die Unkenntlichkeit.

Die leise Klaviermusik im Hintergrund versucht mich zu erreichen, lädt mich zum Träumen ein, klopft immer wieder zart an, wenn sich meine Ohren schlafen legen wollen. Aber auch die Klänge halten nicht vor, sie bilden den Hintergrund – ohne Vehemenz, ohne Risiko, ohne Entschiedenheit. Das Drama der Musik erobert mich nicht, ich nehme es als Alltagsgebrabbel. Wo bin ich?

Ich suche mich und schaue mich um, ob ich vielleicht irgendwo zu sehen bin. Höre mich um, ob vielleicht jemand von mir gehört hat. Aber da ist niemand. Ich könnte eine Suchanzeige aufgeben – just to know, where I am. Nur das, das Wo möchte ich doch gerne wissen. Physisch sitze ich natürlich hier. Das weiß ich schon. Aber eben rein physisch. Habe ich nicht in den Spiegel geschaut, mich nicht gekämmt oder geschminkt? Was erzählen meine Augen, wenn dein Blick…

Ich hatte mir vorgenommen zu schreiben, die Texte weiterzuführen, die im Leben mit fließen wollen. Aber vielleicht habe ich gar nichts zu sagen. Nur eine Sprache hat sich bei mir eingenistet, ein paar fremde Worte sind mir zwar bekannt, aber es ist doch nur eine Liebe, in der ich souverän handeln, schalten und walten kann. Das ist viel und wenig – ich bedaure es, nicht wirklich springen zu können. Aber vielleicht springt mir ja noch etwas in die aufgehaltenen Hände.

Wenn ich den Mut und die entsprechende Phantasie hätte, könnte ich Texte schreiben, die die Löcher zeigen. Die farbigen Rahmen von Momenten, die Brüchigkeit von Buchstaben, die sich nur noch mühsam aufrecht halten. Die den Glanz der Verlegenheit sichtbar machen, das tosende Durcheinander in den Zeiten der äußeren Stille. Die Konjunktur des Wortes Disziplin strebt wieder aufwärts. „Wo ein Wille ist, ist ein Weg!“ Wenn du nur willst, dann kannst du die Welt auf den Kopf stellen – du musst nur wissen, was du willst!

Daran glaube ich nicht mehr. Der Glaube an einen verborgenen Willen im Untergrund ist mir abhanden gekommen. Ich werde aufstehen und weitergehen – meine müden Augen offen halten. Die Straßenlaternen sind in den großen Städten bis spät in die Nacht erleuchtet. Das Schöne ist ja, dass es nur einen Weg gibt. Zwei Wege kann ich ja nicht gleichzeitig gehen. Der Weg ist der Weg ist der Weg. Und die Vergangenheit ist kräftig und stark. Was haben die Menschen nicht schon alles geschafft. Abgründe weggeräumt, Städte neu erbaut, eine Zukunft für unsere Vergangenheit erschaffen.

Weiche Worte erfüllen die Stille, beginnen sich zaghaft zu bewegen. Sie überdauern. Sind standhaft, in ihrer Zartheit – das mag ich sehr. Aber gerade deshalb gehe ich respektvoll mit ihnen um, keines soll sagen, es ginge ja nicht anders, wir wussten ja nicht… „Denn sie wissen ja nicht, was sie tun“. Das ist vorbei. Taugt nicht mehr als Entschuldigung. Auch wenn die klare Durchsicht manchmal Urlaub hat, so kann ich doch die Fensterputzer bestellen. Die Stille bietet Leere – und schenkt Moralität.

Vögel mit Wurzeln

Meine Worte sind Vögel
mit Wurzeln

immer tiefer
immer höher
Nabelschnur.

Der Tag blaut aus
die Worte sind schlafen gegangen.

Hilde Domin
aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, S. Fischer Verlag, 1987, S. 274.

Montag, 4. November 2013

Im Friedwald. Zum zweiten Todestag von Angela Albeck-Henke


Den ganzen Vormittag regnet und stürmt es. Dunkel, kalt und grau fegt der Herbst über das Land und kündet von dem, was da kommt. Doch dann reißt die Wolkendecke auf. Klar und blau wölbt sich der Himmel, hinter mir strahlt die Sonne, vor mir nieselt der Regen – ich fahre dem Regenbogen entgegen, er leuchtet vom einem Ende zum anderen und bringt die warmen Farben in die kalte Luft zurück.

Die Betroffenheit über deinen Tod ist noch immer da und der Kreis der Menschen groß, der daran Anteil nimmt. Wir treffen uns am Parkplatz und laufen durch den Friedwald. Bekannte und vertraute Gesichter treffen aufeinander, vom Sehen kennen wir uns mittlerweile alle – du verbindest uns. „Wie geht es dir? Was machst du? Wie hat sich dieses und jenes entwickelt? Wo stehst du in deinem Leben und was hat Angelas Tod mit dir gemacht?“

Die alten und großen Bäume schütteln ihre Kronen im Wind, die Herbstbrise fährt kräftig durch sie hindurch, lässt Blätter fliegen und macht deutlich, dass alles in Bewegung ist. Der Regen versiegt, es ist plötzlich hell und die Sonne scheint durch das restliche Blattwerk, der Boden ist nass und weich. Wir laufen den Berg hinauf, den Weg entlang, bis wir abzweigen müssen. Ein unscheinbarer Pfad führt ein kleines Stückchen den Hang hinab, zu deinem Baum, zu dir.

Die Gespräche verstummen. Wir bilden einen Kreis, dein Baum ist ein Teil von uns, wir nehmen dich auf, für einen Moment stehst du im Kreis der Lebenden. Es ist still. Nur der Wind singt sein Lied weiter. Die Betroffenheit verbindet und jeder ringt auf seine Weise damit Ja zu sagen. Aufs Neue Ja zu deinem Tod zu sagen, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Leben UND Tod gemeinsam anzuerkennen – und dennoch weiterzuleben.

Abschied genommen haben wir längst, wir sind keine Abschiednehmenden mehr. Der Baum begrüßt uns, die sich Erinnernden und beruhigt sogleich. Dein Baum, er steht und strahlt Beständigkeit aus. In diesem Jahr wirkt er anders als zuvor, er zeugt von Kraft und Leben. Die mächtigen Zweige sind sowohl nach oben als auch nach unten gerichtet. Er verbindet Himmel und Erde. Ein Baum unter vielen und doch ein ganz bestimmter, ein besonderer Baum.

Aufs Neue werden Erinnerungen geboren und geteilt. Verlegen, zögerlich, tastend, du stehst mitten unter uns. Einfacher ist es zu singen, zu beten – gemeinsame Worte auszusprechen. Du hättest das gemocht – oder, magst du es? Wir bringen keinen strahlenden Chor zusammen, aber die Bemühung klingt, die Melodie trägt, Tränen glänzen, Herzen werden berührt. Es ist schön und traurig zugleich.

„Du musst das Leben nicht verstehen…“ sagt Rilke in einem Gedicht. Still und langsam laufen wir durch den Wald zurück. Eine warme Ruhe umfängt mich. Ja. Es ist was es ist. Es ist gut. Irgendwie. Erst am Parkplatz geht es wieder um die irdischen Fragen, an die wir uns halten können: Wie lautet die Adresse, welcher Weg muss genommen werden? Bei Kaffee und Kuchen werden die Gespräche fortgeführt. Es sind weniger die Fragen, die nun leiten, sondern die Erinnerungen und Vorhaben, die Kreuzwege, die die Begegnungen bestimmen.

Die Erinnerung gebiert sich aus dem scheinbar Vergessenen, die Zukunft aus der Vergangenheit und dafür brauchen wir einander. Angela, das Leben geht weiter und du bist dabei. Dein Stern strahlt in der Dunkelheit der Herbststürme weit und hell.

Sonntag, 27. Oktober 2013

…eine Rose als Stütze. Verlierbare Lebende und unverlierbare Tote


Also gut, sage ich mir, es führt kein Weg daran vorbei. Ich fahre. Unterwegs versuche ich Raum für die Leere zu schaffen, mich auf das Loch vorzubereiten, offen zu sein. Aber schon nach wenigen Minuten schalte ich das Radio ein, ich brauche Ablenkung, halte es nicht aus. Weder weiß ich, was auf mich zukommt, noch habe ich eine Antwort auf die Frage. Keine Antwort, die die Zeit angemessen umfängt, die ihr gebührend gerecht wird - die Erzählung enthält offene Blätter, für mich höchstens unsichtbar beschriebene Seiten.

Ich bin nicht die einzige auf der Straße und doch allein, aber der Wind evoziert Leichtigkeit. Der Himmel ist gnadenlos und frech einfach blau, der Herbst bäumt sich auf, schiebt sich vor alles andere. Glutrote, braune, gelbe, grüne, ocker-, sand-, beige- und erdfarbene Blätter, überall fliegen sie herum und spielen sich auf, als wären sie Seifenblasen und dürften feiern. Flammende, feurige Farben bäumen sich in der Natur auf bevor erneut das Ende kommt. Der Tod, die Transformation – die Wendung nach innen.

Es gibt nicht nur eine Wahrheit, nur eine Bedeutung, alles ist vielseitig, polyphon, der gesamte Farbkreis präsentiert sich, Wahrheiten lassen sich nur in Quentchen erhaschen und bilden ein enigmatisches Konvolut. Gerade die klaren Bilder verschleiern gerne ihre Provenienz. Von welcher Seite aus darf ich schauen, mich einbringen, auch wenn ich dabei meine Wunden zeige? Heute habe ich nicht so viel Mut in meinem Rucksack stecken, sondern suche, wie so oft, einen Festpunkt im Nichts.

In der Ferne tauchen die Berge auf. Föhn. In der klaren Luft liegt der Dunst der Zukunft an der Schwelle zum Himmel. Wie die Umrandung eines Bildes stehen die Berge am hinteren Rand meines Horizonts. Sie geben Halt. In verschiedenen Grautönen stehen sie voreinander und umarmen sich gegenseitig. Sommersonnengaben liegen in ihren Herzen – sie werden sich wärmen, wenn es kalt wird und die löchrige Zeit kommt.

Sie ist um Jahre gealtert, ich sehe es sofort, unsere Begegnung kann nicht mehr sein als ein Sternenmoment auf dem stillen Ozean der Zeit, der sich überdauert hat, der vorwärts und rückwärts schiebt, drängt und eine lähmende Unruhe erzeugt. Klar ist: Er ist gegangen UND er ist da. Und klar ist auch: sie ist geblieben UND gleichzeitig weg. Wie kann ich das verstehen, was ist damit zu machen, wie einzubinden in das blutende Herz der Übriggebliebenen? Ich bin ratlos.

Sie setzt sich auf seinen Sessel, auf den Stuhl, auf dem er immer gesessen hat, und nur er. Sie sucht seine Nähe, die nicht mehr da ist, versucht seine Perspektive einzunehmen, was sie nie konnte, beobachtet die Vögel durch das große Fenster und fragt sich, wie es ihm dabei ging – denke ich mir. Seine Zeitungen liegen um sie herum – das Abonnement hat sie nicht gekündigt, eher hätte sie sich versündigt. Ob das geht, mit den Augen eines anderen zu lesen? Kann geistige Sehnsucht warm sein, offen und tragend, so dass sie neuen Lebensmut erhält?

Wir tippen diese Frage an und jene aber es entspinnt sich kein Gespräch, die klingende Melodie erstirbt in Brüchen, stille Momente lasten, wenn sie schwer sind, Worte gefrieren. Ich gehe in den Garten, atme die frische Herbstluft, und sehe dann die letzte blühende Rose an dem Busch neben der Terrassentür. Sie ist voll und farbig und blüht und zeigt sich in all ihrer Pracht – sie duftet und singt und stützt und ich weiß, dass er es ist, der durch sie Grüße bringt, uns allen.

Ob sie das erreicht, versteht? Er war ein leuchtender Fels, ein Anker zwischen Himmel und Erde. Ihr feines Geschick hat ihn vor mancher Attacke bewahrt – aber nun ist sie übriggeblieben, ohne ihn und sie weiß nicht mehr, wer sie ist, was sie soll. Auf die Idee, eine Rose anzuschauen, obwohl es schon Herbst ist, ist sie noch nicht gekommen. Die Toten sind unverlierbar, die Lebenden jedoch können umso leichter verloren werden. Ich fahre zurück, es ist dunkel und still, der Herbstwind hat sich gelegt und die Nacht senkt sich müde auf mein Haupt – zwischen Himmel und Erde.

(Zum Titel: „Nur eine Rose als Stütze“ ist ein Gedichttitel von Hilde Domin. „Verlierbare Lebende und unverlierbare Tote“ sind Begriffe aus dem Gedicht: Die schwersten Wege, ebenfalls von Hilde Domin.)

Sonntag, 13. Oktober 2013

Dinge (V) - Pfennige und Süßigkeitentüten


Die Kinderwelt und die Welt der Erwachsenen stehen einander asymmetrisch gegenüber. Ein Schnittpunkt zwischen den beiden Welten ist das Geld. In meiner Kinderwelt gab es Kinderhausfreunde, Hochhausfreunde, Schulkameraden und die Kinder von Freunden meiner Eltern. Die Kinderwelt war groß und abenteuerlich, vielseitig und ideologisch mal so und mal so geprägt. Je nachdem, in welchem Kontext ich wen traf, konnte dieses oder jenes gemacht werden. Die Erwachsenenwelt war eine für sich, die ich nicht immer verstand.

In der Hochhaussiedlung durfte ich mich mit meinen Schulkameraden frei bewegen. Im Wesentlichen bezog sich das auf die Schneise von unten, wo wir wohnten, nach oben, wo meine Schule, die Hufeland-Grundschule war. Wir wohnten in den Hochhäusern am Ring, innerhalb der Siedlung konnte man autofrei den Berg, der links und rechts von Häusern gesäumt war hochgehen und kam dann, in der Mitte des Weges, auf einen großen Platz. Ich glaube, dass es dort sogar einen Brunnen gab - das hat die Architektur Ende der 60er Jahre auch aus Beton hinbekommen – Bäume, Wiesen oder Büsche gab es mit Sicherheit nicht.

An diesem Platz, dem Koma-Platz, gab es im Erdgeschoß der dort stehenden Hochhäuser mehrere Geschäfte – was es in meinem Hochhaus nicht gab. Unter anderem gab es dort einen Uhrenladen, in dem meine Großmutter mir meine erste Armbanduhr kaufte, sie war blau – das weiß ich noch. Auch gab es einen Supermarkt, den Koma-Markt eben, einen Tabakladen, einen Zeitschriftenladen – und vielleicht noch mehr – jedenfalls gab es an der Ecke, an der wir vorbei mussten, wenn wir zur Schule gingen, da ging es noch ein Stück weiter den Berg hinauf, eine Bude.

Ja, so nannte man das damals im Ruhrgebiet – einen Kiosk, eine Trinkhalle, eben eine Bude. Und in dieser Bude überschnitten sich die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt auf eine unideologische Art und Weise. Wir Kinder durften, so wir die entsprechenden Geldstücke vorwiesen, Teil der Erwachsenenwelt werden – wir wurden als Käufer anerkannt. Man konnte in diese Bude hineingehen. Ich nehme an, dass es dort die üblichen Notfall-Produkte gab, die man so brauchen kann.

Für uns war aber nicht das Hineingehen interessant, Butter, Rasierschaum oder Klopapier interessierte uns nicht, sondern die Glasfront vorne. In der Mitte gab es ein kleines Fenster, aus dem der Verkäufer schaute und verkaufte. Und hinter der gesamten Glasfront, um das Fenster herum, waren durchsichtige Süßigkeitendosen aufgestapelt, in die der Verkäufer hineingreifen konnte, wenn wir…

Da gab es jede Menge Gummizeug, Colafläschchen, Teufel, Lakritzschnecken, Salzbrezeln aus Lakritz, kleine gefüllte violette und silberne Pastillen, Salmiakkugeln und Mausespeck aus Schaumzucker, Lutscher und Lollys, Colakracher und Brausetüten, süße Halsketten und Schleckmuscheln, Kaubonbons und mit Schokolade überzogene Karamelstangen oder bunt gefüllte Überraschungssortimente. An Schokolade erinnere ich mich nicht.

Alle diese kleinen süßen Dinge kosteten nur einige Pfennige. Und wenn man zehn, zwanzig oder sogar fünfzig Pfennige besaß, dann konnte man sich eine prall gefüllte Tüte zusammenstellen lassen. Gewissenhaft und geflissentlich bedienten uns die Verkäufer, in der Hoffnung, uns als Kunden zu erhalten, die später etwas finanzkräftiger zugreifen würden. In diesen Momenten war der Schnittpunkt das Geld, die Erwachsenen konnten sehr freundlich zu uns sein – jeder war auf seine Weise von Hoffnungen und Wünschen getragen.

Der Besitz einer selbst zusammengestellten Süßigkeitentüte, sie war weiß und aus Butterbrotpapier, war für uns Kinder der Himmel auf Erden. Wir spazierten quatschend und schmausend und des Lebens lustig durch die graue Betonwelt und malten uns aus, was wir später, wenn wir groß sein würden, wohl verkaufen könnten – in der Rangordnung ganz oben stand selbstverständlich der Süßigkeitenbudenbesitzer, auch wenn wir ahnten, dass unsere Eltern, zu welchem Lager sie auch gehörten, das möglicherweise übereinstimmend nicht als Priorität favorisierten.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Dinge (IV). Flügel und Abgründe


Ich war sieben Jahre alt und mitten im Zahnwechsel. Das war mein Glück – sonst wären Zähne zu Bruch gegangen. Ich hatte Rollschuhe bekommen. Rollschuhe, die man sich über die Schuhe schnallte. Vorne mit Gummilaschen und einer Schleife und um das Fußgelenk mit einem Lederband, das in regelmäßigen Abständen Löcher aufwies, damit der Stachel der Schnalle in genau jenes gedrückt werden konnte, das den Rollschuh fest an den Schuh drückte.

Die vorderen Gummilaschen und das lederne Band waren rot, die Schnürsenkel gelb, die Räder schwarz, das Gestell blechern. Die Rollschuhe waren neu, ich hatte sie von meiner Großmutter geschenkt bekommen und ich übte unermüdlich galant auf den zwei Mal vier Rädern zu fahren. Das war nicht einfach, ich fuchtelte ziemlich viel mit meinen Armen in der Luft herum, machte aber Spaß und gab mir das Gefühl, über mich hinauszuwachsen.

Vor unserem Hochhaus gab es einen breiten gepflasterten Weg, der zu einer abwärtsgerichteten Betontreppe führte. Sie mündete mit etwa dreißig Stufen auf den Parkplatz, auf dem all die Autos der Hausbewohner standen, und war ebenfalls gepflastert. Auf diesem Boden ließ es sich nicht wirklich gut fahren lies. Zwischen Parkplatz und Straße standen ein paar jämmerliche Büsche, auf einer schmal eingefassten und langgezogenen Erdfläche – dort endete unser Territorium, bis dahin durfte ich mich frei bewegen. Normalerweise.

Aber, mein kindliches Glück wollte es, dass sich die Ölkrise auf unser Land hernieder senkte. An mehreren Sonntagen im Herbst herrschte ein komplettes Autofahrverbot und somit erweiterte sich unser Bewegungsradius. Wir durften an so einem Tag auf der Straße Rollschuh fahren. Ihre Oberfläche bestand weder aus Kopfsteinpflaster, Betonplatten noch aus sonstigen unebenen Materialien, sondern aus glattem Asphalt. Wir machten es wie die Autos sonst, auf der einen Seite in die eine Richtung, auf der anderen in die andere und um die gebrochene Mittellinie übten wir das Slalomfahren.

Es war wunderbar – fast wie fliegen. Ich glaube, dass alle Kinder aus der Siedlung an diesem Tag das Rollschuhlaufen übten. Die mit neuen Augen betrachtete Straße um unsere Siedlung herum war zu einer Flugschneise avanciert, in die wir ein- und ausbogen, auf der wir schnell und langsam fuhren, Hand in Hand und allein, es war ein Fest. Und das: ohne Erwachsene. Die lehnten sich sonntagnachmittäglich auf den kinderfreien Sofas zurück, schrieben Diplomarbeiten oder diskutierten die bedrohliche Weltlage. Kurz, sie kümmerten sich nicht um uns.

Das Glück war bei mir, ich fühlte mich wie eine kleine Königin mit Flügeln. Aber auch das Unglück war nicht weit. Als es zurückging, nach Hause, über den Kopfsteinpflasterparkplatz, an unserem gelben R4 vorbei, die Betontreppe hoch. Aus irgendwelchen kühlen Gründen, ich weiß heute wirklich nicht mehr warum, bin ich nicht auf der rechten Seite, dort, wo ein Handlauf die Treppe hinaufführte, mit meinen Rollschuhen die Treppe hoch geklettert sondern links, ohne mich festhalten zu können.

Und irgendwie mittendrinn, auf dem Weg die Betonstufen zu erklimmen, rutschte ich aus, verlor das Gleichgewicht. Ich versuchte mich mit Händen und Knien zu halten. Aber ich stürzte mit der Oberlippe auf eine Stufenkante. Gerade dort, wo die vier oberen Schneidezähne fehlten. Auch Knie und Ellenbogen waren kräftig lädiert, aber Blut schoss aus meiner Lippe, knallrot und ohne Unterlass. Das brannte entsetzlich und schmeckte gleichzeitig süß.

Wie die Sache an diesem Abend ausgegangen ist, das weiß ich nicht mehr. Aber die Narbe fühle ich noch heute. Und manchmal, wenn ich versonnen und melancholisch bin, dann nehme ich die kleine Beule an meiner Oberlippe zwischen meine Zähne und denke daran, dass das Fliegen und das Abstürzen zusammengehören, so wie Glück und Unglück… Ich weiß gar nicht, ob ich je wieder Rollschuh gelaufen bin – schließlich dauerte die Ölkrise ja gar nicht lang.