Immer wieder durchschreiten wir die Bewusstseinsschwelle zwischen Tag und Nacht aufs Neue – am Morgen und am Abend, manchmal später, manchmal früher. Am Tag sind wir wach und – mehr oder weniger - bewusst, wir entscheiden uns für dieses und jenes und sind fortwährend in einem Handlungs- und Tätigkeitsstrom, innerlich und äußerlich. Unser Bewusstsein ist tätig und wach. In der Nacht, wenn wir schlafen, ist unser Tagesbewusstsein ausgeschaltet, es schläft. Im Nachtbewusstsein sind es Stimmungen, Klänge, Bilder und Traumgeschehnisse, von denen wir umgeben sind, und die wir manchmal bis in den Tag mitnehmen. Es sind zwei unterschiedliche Sprachen, in denen der Tag und die Nacht mit uns sprechen.
Wenn ich am Morgen aufwache, liegt der Tag noch unbetreten vor mir. Er öffnet seinen Raum – manchmal mit einem Sonnenaufgang -, zeigt aber noch wenig von seinem eigenen Vorhaben, still und leise offeriert er sich. Die Schwelle zwischen Wachen und Schlafen kann schnell passiert werden, oder auch langsam, wenn ich innerlich immer wieder einen Blick nach hinten werfe. Ich muss mich auf den Tag besinnen, auf ihn zu gehen, um richtig wach zu werden, und mir klar machen, was der Tag von mir verlangen könnte und was ich mit ihm anstellen will. Der Tag bietet sich an, 365 Mal im Jahr, ohne Garantieversprechen - ich bin es, die etwas aus ihm machen kann.
Es wird Verpflichtungen geben, denen ich nachzukommen habe. Zeiten, die von vorne herein „besetzt“ sind. Aber es wird auch offene Momente geben. Momente, die sich aus sich selber heraus, aus mir und dem sozialen Gefüge, in dem ich gerade stehe, ergeben. Vielleicht passieren uns diese Momente schlafwandlerisch, vielleicht aber auch bewusst. Eines ist sicher, die Sekunden, Minuten und Stunden werden erbarmungslos verstreichen. Zeit vergeht – egal, was ich mit ihr mache.
Noch im Bett liegend, oder vielleicht unter der Dusche stehend, spüre ich eine Stimmung in mir, die gar nicht unbedingt in Worte zu fassen ist. Sie kommt aus der Nacht, die hinter mir liegt. Auch wenn ich mich nicht „konkret“ an nächtliche Traumereignisse, innere Gespräche oder geistige Begegnungen erinnere, so hinterlässt die Nacht doch einen Klang in mir. Manchmal bin ich traurig und dunkel, manchmal voller Energie und hell, es gibt Tage an denen ein Vertrauen überwiegt, aber manchmal auch die Sorgen in Bezug auf das Kommende. Es gibt Nächte, die mich mit einem Wort, einem Gedanken, einem Gedicht oder einem Satz entlassen. Manchmal habe ich allerdings auch das Gefühl, dass die Nacht mich in einem schwarzen Kasten gefangen hält.
In der Nacht verarbeiten wir das, was wir am vorhergehenden Tag gemacht, gedacht und gefühlt haben und bereiten innerlich das vor, was vor uns liegt. Wenn uns die Nacht nicht schlafen lässt, dann gibt es etwas, was der Tag noch nicht freigibt. Wer kennt das nicht, dass wir über eine bestimmte Frage erst einmal schlafen wollen – durchschlafene Nächte können auf geheimnisvolle Weise auch eine Gewissheit schenken, die kein bewusster Gedankengang hervorbringen kann. Man sagt, dass wir nachts im Schlaf unserem Engel begegnen und das irdische und himmlische Gegebenheiten miteinander verbunden werden. Ahnungen davon schenkt uns die Nacht beim morgendlichen Erwachen – wenn wir darauf achten.
Durch einen Tagesrückblick am Abend und einen Vorblick auf den Tag geben wir der Nacht eine Chance sich an den beiden Schwellen verständlich zu machen. Und wenn wir im Tagesverlauf immer wieder einmal innehalten, und in uns hinein lauschen, dann hören wir vielleicht die leise Stimme in uns, die aus dem leisen Gold der Nacht zu uns spricht.
• Vorbereitende Fragen vom Tag an die Nacht können sein:
Was habe ich heute gedacht, gefühlt und getan?
Was war das Wichtigste heute?
Welches war ein besonderer Moment?
Welche Frage blieb unbeantwortet?
Welche Antwort, welcher Satz den ich gehört habe, geht mir nach?
Gibt es etwas, wofür ich mich schäme, was ich falsch gemacht habe?
Gab es einen Moment, der sich wie ein innerer dunkler Abgrund vor mir geöffnet hat?
Gab es Wort-Geschenke, deren Sinn ich noch nicht verstanden habe?
Gibt es etwas, worüber ich erst einmal schlafen will?
Was nehme ich vom Tag mit in die Nacht?
Direkte Fragen an die Nacht sind persönlich, konkret und nicht zu verallgemeinern. Sie ergeben sich aus dem Tagesgeschehen, den inneren Notwendigkeiten und Nöten, den Themen, mit denen man beschäftigt ist. Sie sind ein Angebot an die Nacht. Grundsätzlich lässt sich allerdings sagen, dass bis auf neugierige Zukunftsfragen jede Art möglich ist. Wenn wir innerlich offen und nicht „ergebnisorientiert“ die Nacht um etwas bitten, uns ihr in Bezug auf diese oder jene Frage anbieten, dann wird sie reagieren – auf die eine oder die andere Weise. Vielleicht nicht unbedingt mit einem konkreten Satz, sicherlich aber mit einer Stimmung, einem Klang, einem Bild oder einem Hinweis. Vielleicht geschieht das auch nicht direkt in den ersten Sekunden des Tages, aber im Laufe des Vormittags.
• Stimmungen aus der Nacht an den Tag:
Welche Traumbilder habe ich mitgebracht?
Wie ist meine Stimmung?
Gibt es einen Klang, ein Wort, ein Bild?
Was ist mein erster Gedanke?
Wie fühle ich mich?
Bin ich ausgeschlafen, munter und voller Kraft?
Oder spüre ich Traurigkeit, Mattheit oder eine Schwere?
Erhalte ich eine direkte Antwort auf meine Frage?
Oder habe ich meine Frage vergessen?
An wen oder was denke ich, wer kommt mir in den Sinn?
Möglich ist es, am Abend einen Satz zu formulieren - über den Tag, über meine Frage, über mein Befinden. Und am Morgen ebenfalls in einem Satz festzuhalten, was die Nacht gebracht hat, wo ich am Morgen gelandet bin und von wo aus ich wieder in einen neuen Tag hinein laufe. Vielleicht mag der eine oder die andere davon in den Kommentaren etwas erzählen – ich würde mich darüber freuen.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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Hilde Domin