Manche Züge fahren einen langen, weiten Weg. Durchgehend von Süd- nach Norddeutschland, von Brüssel nach Moskau, von Paris nach Wien. Sie beginnen ihre Strecke zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Manche Züge fahren durch, man muss noch nicht einmal umsteigen. Aber das ist natürlich nicht immer so. Öfters mal muss man an bestimmten Orten eine Aufenthaltszeit überbrücken. Man muss umsteigen – wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will. Aber es gibt auch Züge, die lange, lange Strecken hinter sich bringen, und in denen man einfach sitzen bleiben kann.
Das Bild der langen Zugfahrt ist eine Metapher für den Lebensweg. Wir wissen, wann und wo wir eingestiegen sind – in dieses Leben. Jedenfalls wurde uns das erzählt. Und wir haben einen Zettel, auf dem das vermerkt ist. Aber wir wissen weder, wo wir aussteigen – ich meine, endgültig aussteigen – noch, wo wir uns befinden. Ich meine, wie viel unseres Lebensweges wir schon hinter uns haben, und wie viel noch vor uns liegt. Ganz zu schweigen vom endgültigen Zielbahnhof. Wir befinden uns auf der langen Fahrt durch unser Leben – und wissen noch nicht, wann und wo und wie es endet. Möglicherweise kommen wir noch an unbekannten Landstrichen vorbei, von denen wir noch nichts ahnen.
Auf manchen Abschnitten der Reise sitzen wir allein im Abteil. Wir schlafen, dösen oder träumen vor uns hin. Immer wieder einmal läuft ein Mitreisender an uns vorbei, mal in die eine Richtung, mal in die andere. Manchmal kennen wir einander dann nur vom sehen. Dann kommt der Schaffner. Wenn er aufmerksam ist, besteht er nicht darauf, unser Ticket öfters sehen zu wollen. Hin und wieder wird allerdings ein Personalwechsel durchgeführt, dann müssen wir uns wieder aufs Neue ausweisen und belegen, dass wir auf dieser Strecke wirklich mitfahren dürfen.
Manchmal ist der Zug voll. Ein lärmender Kegelclub reist mit. Oder eine Schulklasse. Oder, oder, oder. Aber auch wir reisen nicht immer allein. Manchmal treffen wir jemanden, den wir kennen und reisen ein Stück gemeinsam. Oder wir lernen jemanden kennen. Oder beobachten jemanden. Oder stellen fest, dass jemand offensichtlich das gleiche Ziel hat. Manchmal ist der Zug knackvoll – jeder Sitz belegt und das Gepäck stapelt sich auch noch im Gang. Hie und da müssen sogar Mitreisende stehen – egal bei welcher Geschwindigkeit. Oft wissen wir von ihnen nicht, wo sie eingestiegen sind – und wohin sie wollen.
Manchmal ist der Zug aber auch nur mäßig besetzt. Wir schauen uns um und betrachten die Menschen, die mitreisen. Sehen dort jemanden, der in einem Buch liest, dort jemanden, der sich unterhält, aus dem Fenster schaut, schläft, oder sich ebenfalls umschaut. Mitreisende können jegliches Alter haben, schon ganz kleine Säuglinge reisen mit dem Zug – und auch noch alte Menschen, mit einem Gehstock versehen, oder einem Helfer an der Seite. Junge, Alte, Männer, Frauen, Kinder. Jegliche Nationalität kann vertreten sein – und so bemühen sich auch die Schaffner sogar auf Englisch das nächste Ziel durchzugeben, damit wir es alle verstehen…
Züge fahren jeden Tag – so wie wir jeden Tag leben. Und sie fahren zu jeder Tageszeit - auch nachts. Aber natürlich auch zu jeder Jahreszeit. Es gibt kurze und lange Züge, schnelle und langsame. Manchmal wechseln sie unterwegs sogar die Richtung. Sie können Landesgrenzen überqueren, über Brücken und durch Tunnel fahren. Deutschland ist von einem mächtigen Streckennetz durchzogen, das uns zu jeglichem Ort bringt, an den wir wollen. Lebenswege sind vielseitig.
Mit dem Lokführer haben wir als Mitreisender nichts zu tun. Von ihm lassen wir uns fahren. Ihm vertrauen wir. Das müssen wir wohl. Auch, wenn er manchmal auf offenem Feld anhält. Wenn er langsam fährt oder durch die Landschaft rast. Manchmal hören wir den Zugchef etwas sagen, durch die Lautsprecheransage. Er gibt dann etwas bekannt, was die Reise betrifft. Wir als Reisende können ihm aber nur zuhören. In direktem Kontakt stehen wir nicht.
Auf meiner Zugfahrt ist es heute ein wenig grau und nass. Gut ist, dass geheizt wird, und dass das Bordbistro mit allerlei Leckerbissen gefüllt ist. Ein wenig Musik täte aber gut – es ist recht still hier. Oder ein anregendes Gespräch mit einem Mitreisenden – um andere Blickwinkel zu bekommen. Wie sieht es in euerm Abteil aus, reist ihr allein oder zu mehreren? Was seht ihr, wenn ihr aus euerm Zugfenster schaut?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin