Samstag, 31. Dezember 2011

Weihnachtsfrage VIII

Was hat das vergehende Jahr dir gebracht, was hast du ihm angeboten?

Freitag, 30. Dezember 2011

Weihnachtsfrage VII

Was siehst du in deinen Mitmenschen um dich herum, was sie selber nicht wissen?

Donnerstag, 29. Dezember 2011

Weihnachtsfrage VI

Was möchtest du in dir für die Welt keimen lassen?

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Weihnachtsfrage V

Wie sieht deine Welt heute innerlich, wie äußerlich aus?

Dienstag, 27. Dezember 2011

Weihnachtsfrage IV

Was hat dich erwartet, was hast du angetroffen?

Montag, 26. Dezember 2011

Sonntag, 25. Dezember 2011

Weihnachtsfrage II

Was siehst du im Licht der Kerzen, wenn du durch die Tür gehst?

Samstag, 24. Dezember 2011

Weihnachtsfrage I

Mit welchem Gepäck auf dem Rücken stehst du vor der weihnachtlichen Tür, die sich zu öffnen beginnt?

Freitag, 23. Dezember 2011

„Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung.“

Draußen ist die Welt dunkel und kalt. Zwischen dem Schnee auf den Feldern und den kleinen Sternen am nächtlichen Himmel müssen wir die so dringend benötigte Wärme in diesen Wintertagen innerlich erzeugen, eine kleine Flamme entzünden, damit wir als Menschen auf der Erde die Orientierung nicht verlieren.

Morgen ist der 24. Dezember. Die vierundzwanzig Erwartungstage, die Adventszeit liegt dann hinter uns. Das, was aus der Zukunft kommt, nimmt unsichtbar Gestalt an: DER Tag beginnt. Die Stunden werden vergehen und am Abend wird es so weit sein: die Weihnachtszeit beginnt! Die erste heilige Nacht entfaltet sich in der Dunkelheit. Und es folgen zwölf weitere „heilige Nächte“. Dabei wird es von Nacht zu Nacht langsam wieder etwas heller.

Weihnachten, das Fest der Liebe. Was bedeutet das? Ein Kind wurde geboren und veränderte die Welt. Und jedes Jahr können wir aufs Neue daran teilhaben: Können DEM Kind in uns zur Geburt verhelfen, können etwas beginnen, anfangen, entstehen lassen, um es, gegebenenfalls, auch wieder enden und sterben zu lassen.

Geburt und Tod liegen nah beieinander und sind für mein Alltagsbewusstsein kaum zu greifen, geschweige denn zu verstehen. Was geschah vor unserer Geburt, was geschieht nach unserem Tod? Dem Einen von uns sind lange Jahre auf Erden gegönnt, dem Anderen nur wenige. Wie lange die „Gegenwart“ unseres Lebens dauert, ist uns unbekannt. Jahr für Jahr aber wird es immer wieder Weihnachten.

Wenn zur Weihnachtszeit äußerlich „gejubelt“ wird, wenn Chöre erklingen, Geschenke verschenkt werden, ein großer Speiseplan gewählt wird, dann spielt sich das alles in der äußeren Welt ab. Was aber geschieht im Inneren, in unserem Herzen, das so treu klopft und klopft und manchmal aus dem Rhythmus kommt? Dieses zarte Klopfen ist es, das zur Weihnachtszeit von innen nach außen und von außen nach innen drängt.

Die Welt hält in den Weihnachtstagen inne und es entsteht Raum und Zeit, diesem inneren Klopfen nachzugehen. Sich nicht weiter durch äußere Gegebenheiten durch die Tage schicken zu lassen und Stunden um Stunden mit „Erledigungen“ vergehen zu lassen. Die Weihnachtstage laden uns ein still zu werden. Nach innen zu blicken. Uns zu verwandeln – so wie es schon Rilke in seiner 7. Duineser Elegie sagte.

Ich werde ab morgen wieder Fragen stellen. Weihnachtsfragen. So wie im letzten Jahr. Fragen, die aus der Stille kommen und in die Stille gehen. Fragen, die die Zukunft einladen. Das geschriebene Wort ermöglicht uns die äußere Stille. Weder Fragen noch Antworten müssen äußerlich erklingen.

Es werden Fragen sein, die sich an den inneren Stern in uns wenden, ihn zum Erleuchten einladen. Und hiermit möchte ich wieder alle Leserinnen und Leser herzlich dazu einladen, sich an dem Weihnachtsblog in jeglicher Form über Kommentare zu beteiligen und ihm so zur Geburt zu verhelfen.

Fragen gelangen dann zu ihrer Bestimmung, wenn sie bewegt und betastet werden, neu angeschaut und gewendet werden. So wie Texte ohne Leser ein Schattendasein führen, brauchen Fragen einen Ort, an dem sie sich ausbreiten und transformieren dürfen.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine innige Weihnachtszeit mit Fragen und vielleicht auch Antworten. Ruhe, Besinnlichkeit und Innerlichkeit für das Neue in uns, damit die Sterne nicht nur am Himmel leuchten, sondern auch in unseren Herzen und unter der Erde.
Sophie Pannitschka

Sonntag, 18. Dezember 2011

Aristoteliker. Das Detail

Und seit einer Woche schaue ich mir die Welt aus doppelter Perspektive an – so gut das einer Platonikerin gelingt… Wenn sie genau hinschauen muss, wenn sie zwei- oder dreimal so lange vor einem Kunstwerk stehen bleibt, wenn sie ins Detail geht. Wenn sie nicht von oben, sondern von unten schaut. Wenn sie nicht nach den Sternen, sondern nach den Dingen greift. Die Aristotelikerin in mir spricht eine andere Sprache. Und es ist schon wahr, die Platonikerin ist die arrogantere und überheblichere der beiden.

Und weil die Welt aus der Sicht von Platonikern und Aristotelikern so ganz anders aussieht, ist kaum vorstellbar, dass die beiden über die gleichen Dinge reden. Ja, die Dinge. Was für den Platoniker groß und weit ist, ist für den Aristoteliker klein und fein. Er kann „die Dinge“ in sich aufnehmen und gleichzeitig „zum Ding“ werden. So wie Walter Benjamin, der die kleinen und feinen Dinge in seinem Alltag sprechen lassen konnte. Da wird von einer Nähspule berichtet oder von einem Ornament an einer Haustür…

Aristoteliker sind im positivsten Sinne kurzsichtig, sie nehmen Farben, Formen, Gerüche und kleine Nuancen wahr, während der Platoniker in die Ferne schweift. Da wo er die Dinge mit seinen Gedanken umarmen kann, ist der Aristoteliker tatsächlich vor Ort. Das visuelle, auditive, haptische Erlebnis zählt für ihn. Und das im Hier und Jetzt. Und zwar nur im Hier und Jetzt. Die Unmittelbarkeit, die einzelnen Momente werden geheiligt, Zeit und Raum werden ihm zum Tempel – und wenn es nur für Minuten ist.

Neue Blickwinkel werden in vertrackten Situationen von Aristotelikern eingebracht. Sie vermögen es, sich drei Zentimeter weiter nach links oder rechts zu bewegen und von dort zu schauen. (So etwas hält ein Platoniker nicht einmal für denkbar, wenn er sich bewegt, dann gleich Hunderte von Metern…) Und weil die Aristoteliker so unbefangen aufs Detail schauen, sind sie auch die besten Chirurgen. Materie ist ihnen vertraut, sie nehmen sie unbeschwert hin – schauen so, als wenn sie etwas zum ersten Mal sehen…

Das Schicksalsnetzwerk des Aristotelikers ist genauso groß wie das des Platonikers. Die Bedeutung der Beziehungen ist aber eine ganz andere. Wo der Platoniker nach einem langen Leben fünf Namen nennt, kommt der Aristoteliker kaum an ein Ende seiner Aufzählung. Für ihn gelten andere Gesetze. Er hat unendlich viele Freunde – und jeden für einen anderen Bereich seines Lebens. Für den Aristoteliker hat jeder Freund einen eigenen Ort in ihm, eine spezielle Bedeutung, einen besonderen Anknüpfungspunkt.

Es scheint mir relativ einfach zu sein, den Unterschied zwischen Platonikern und Aristotelikern durch ihre scheinbare Gegensätzlichkeit sichtbar machen. Im Grunde genommen geht es ihnen aber um die gleiche Sache. Sie wollen in Raum und Zeit leben und zwischen Geburt und Tod die Erde durchstreifen, ergreifen und vergeistigen. Der Platoniker trachtet dabei danach, seine große Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren. Und der Aristoteliker versucht die große Zukunft schon aus der Vergangenheit heraus zu beschreiben.

Die beiden treffen im Hier und Jetzt aufeinander – und nur dort. Wenn dieses Treffen nicht am Abgrund geschieht, dann gehen sie locker aneinander vorbei. Wenn sie sich aber an der Kante treffen, dann wird das Leben für beide neu, anders, aufregend. Es kann unerträglich werden, weil sie einander nicht trauen. Aber es kann auch ein Fest werden, denn sie sind so unterschiedlich wie nur etwas und brauchen einander darum so sehr, um dem materiellen Dasein etwas abzugewinnen.

Puh… geschafft. Ich muss gestehen, es ist nicht leicht, aus der Perspektive eines Aristotelikers zu schreiben, ja fast nicht möglich. Für eine weitsichtige Platonikerin ist das Detail ein Stolperstein, über den sie leicht und locker und schnell hinweggehen möchte, bevor sie den blauen Fleck am Fuß genauer untersucht und die Äderchen zählt, die nun hervortreten. Vielleicht können Platoniker tatsächlich etwas lernen, wenn sie mit einer aristotelischen Brille durch den Tag wandern, das Angebot muss allerdings stimmen, sonst schaut sich der Platoniker nach einer größeren Idee um.

Samstag, 10. Dezember 2011

Platoniker. Ohne den Himmel läuft nichts

Und weil der Platoniker manches nicht mitkriegt, was der Aristoteliker so macht, kommt er manchmal erst nach ihm zum Ort des Geschehens.

Und doch haben Platoniker den Zeitstrom gepachtet – für die Ewigkeit, ohne Kündigungsrecht. Ihnen gehören Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – so einfach ist das. Platoniker waren schon immer da und werden auch so lange bleiben bis kein Fünkchen falscher Hoffnung mehr bleibt. Das ewige Leben trägt sie, die Götter sind mitten unter ihnen und hauchen den Platonikern den ewigen Odem ein.

Vom irdischen Leben verstehen sie wenig. Sie sind nicht daran interessiert ein Elefantenskelett zu rekonstruieren. Sie suchen eher den Sternenstaub in zerbrochenen Schüsseln – die Nabelschnur nach oben muss sein. Jegliche Konstruktion auf Erden braucht eine Idee im Himmel. Und so steht es auch mit jeder SMS die ein Platoniker schreibt, sie handelt von grundlegenden, allumspannenden Wahrheiten.

Der Auftrag der Platoniker lautet, das Wesen der Dinge zu erhalten, ja überhaupt das Wesen sichtbar zu machen und ihm zu dienen – auf Erden. Und das ist ihnen schon lästig. Denn es geht dabei nicht um Kleinigkeiten - Tonscherben, Haarschnipsel oder deutsche Grammatik. Nein, die Wesenhaftigkeit im Großen zählt und sie ist nur in der übergeordneten Geistigkeit zu finden. Das große Wort ist Leben und der Tod ist nur durch das ewige Leben zu ertragen, ja nur dann zu denken, wenn der Geist von ihm Besitz ergreift. Ohne den himmlischen Glanz sieht jeder Stein grau aus.

Wenn ein Platoniker Freundschaft geschlossen hat, dann hat er den Menschen so in sein Herz geschlossen, dass ihn nur ein Weltuntergang daran hindern könnte diese Freundschaft zu preisen. Was ihn vernichtet sind Bemerkungen, die sein Wesen treffen. Kleine, scharfe, spitze Pfeile. Diese Verletzungen sind dann so groß, dass auch die Götter nichts mehr ausrichten können. Platoniker können ziemlich halt- und trostlos verzweifelt sein. Engherzigkeit ist etwas, mit dem sie nicht umgehen können. Sie lieben die Weite der Freundschaft und das imaginäre Band, das Menschen verbindet.

Auf die Versicherung seiner Freundschaften ist der Platoniker allerdings ständig angewiesen. Da er sich selbst nicht traut (wer kann das schon?), braucht er das Votum der anderen – von denen er besser denkt als von sich selbst. Aber eine treue Seele ist er, wenn er einmal eine Freundschaft geschlossen hat, dann wird man einen Platoniker nicht mehr so schnell los. Hoffnungskräfte tragen ihn – fast bis ans Ende der Welt. Ein Platoniker ist zwar menschlich vernetzt, aber doch ein einsamer Geselle, der den gesamten Kosmos auf seinen Schultern zu tragen vermag.

Über irdische Katastrophen geht er locker hinweg, als handle es sich um ein altes Brötchen. Sinn, Ziel und Größe zählen für ihn – keine Kisten mit Tonscherben. Das Netz der Unendlichkeit, Sinnbild des nächtlichen Sternenhimmels, ist ihm näher als mancher Bettgeselle. Das physische Leben interessiert den Platoniker nur insofern, als dass er Träger des Geistigen ist, des Weiten und Großen. Was zählt, sind die göttlichen Wahrheiten, die manch irdische Seele aufzunehmen vermag. Im Zweifel besteht das menschliche Ich aus einer Idee (was auch sonst?).

Was Platoniker lieben ist der große Wurf – die Ordnung im Universum, die sich im irdischen Leben in ein kreatives Chaos verwandelt. Systematik ist ihnen fremd (obwohl sie das Gegenteil von sich behaupten), akribische Rekonstruktion auch. Sie sind große Konstrukteure – vielleicht sogar Konstruktivisten – denn ohne Baumeister wird nichts geschaffen. Der Platoniker ist alt im Himmel und jung auf der Erde – im Zweifelsfalle zählt die Weisheit des Himmels, komme was wolle. Wenn ihm nach oben die Tür verschlossen ist - was durchaus vorkommt!!! - ist er verloren.

Denn er kann sich keinen eigenen Kosmos bauen, ihn höchstens mit Worten beschreiben, die Idee benennen. Das Große im Kleinen ja – das kann er sehen. Aber nicht umgekehrt: Das Kleine im Großen… da wird der Platoniker verlegen. Mit einer Narbe auf der Haut kann er nicht umgehen. Was er sucht ist aber gerade die Erdverbundenheit, denn er weiß, dass er nur hier Erfahrungen machen kann, auf Erden, in der Wiege der Menschheit. Eigentlich reichen ihm aber göttliche Gebote völlig aus, um einen einfachen Tag im 21. Jahrhundert zu überstehen.

Die Verlorenheit eines Platonikers findet Aufnahme im Herzen eines Aristotelikers – aber das scheint ein gefährliches und seltenes Spiel zu sein. Wenn sich die beiden am Abgrund treffen, wer sagt dann zuerst etwas? Wer traut sich? Was sprechen die beiden miteinander? Und wohin führt ihr Gespräch?

Sonntag, 4. Dezember 2011

Das innere Team. Im Advent auf dem Weg

Tag für Tag nähert sich Weihnachten, verschiedene Zeichen am Wegrand erzählen davon. Heute brennt die zweite Kerze auf meinem Küchentisch. Ein Stern ziert mein Fenster. Bei den Nachbarn agiert eine große Lichtershow im Garten. Der Himmel ist wolkenbehangen und grau, von himmlischer Seite scheint es im Moment keine sichtbaren Beiträge zu geben. So richte ich meine Aufmerksamkeit nach innen. Was erzählen die verschiedenen Stimmen in mir, mit welchen Sorgen und Nöten sind sie beschäftigt, wie bereiten sie sich auf Weihnachten vor?

Die Stille raunt mir zu: Übergib dich einem leisen Tag, folge zarten Klängen, höre, lausche, nimm die Ruhe und das Alleinsein an. Stille zeigt sich wie ein weites, unergründliches Meer. Klänge verhallen, Ahnungen verschwinden, aber der Herzschlag wird spürbar, jeder Gedanke wird von einer silbernen Spur begleitet, die den Rand zwischen mir und dir erkennbar macht. Stille ist weich und unerbittlich, übergib dich und schweige.

Die Leere versucht mich hingegen davon zu überzeugen, dass es nichts zu bedenken, zu bemerken, zu tun gäbe. Sie verdrängt die Fülle und breitet sich aus. Die Leere lässt das Gestern und das Morgen verschwinden, sie ist nur JETZT, JETZT und noch mal JETZT. Es gibt kein Hinten und kein Vorne, kein Oben und kein Unten. Die Leere ist wie eine Seifenblase, die plötzlich zerplatzen kann. Die Leere ist ungemütlich, aber sie lädt mich zum Innehalten, zur Besinnung ein. Sie fordert den Mut, mich dem Nichts anzuvertrauen und mich tragen zu lassen.

Aber mein Verantwortungsgefühl spricht hingegen von unerledigten Belangen. Es mahnt mich an dies und das zu denken, endlich verschiedene Vorhaben anzugehen, sie zu erledigen, hinter mich zu bringen. Und ich schreibe gedanklich eine saubere Liste, konzentriere mich auf das, was ich noch alles tun will, bevor die Welt zu Weihnachten inne hält. Bevor die Stille auch ins Außen schwappt, das Karussell langsamer fährt und der Raum groß wird, in dem das Innen zum Außen und das Außen zum Innen werden kann.

Das kleine Kerzenlicht an meiner Seite erzählt von großen Dingen - ganz bescheiden. Von Verwandlung und Transformation, von Materie und Geist. Von Licht in der Dunkelheit, von Wärme in der Kälte, von Zartheit in Gewaltigkeit. Es lädt mich ein, mich in ihm zu verlieren, und in dieser Verlorenheit Halt zu finden. Das Kerzenlicht spricht vom Hier und Jetzt in der Ewigkeit, vom All-Einen. Es ist beständig und treu.

Die wartenden Worte in meinem Herzen reihen sich auf, sie putzen sich und zeigen sich in neuem Glanz. Sie schenken mir Zeit und machen gleichzeitig auf sich aufmerksam. Sie wollen auftreten, beleuchtet werden und mitspielen, Gruppen bilden, Pirouetten drehen und Unerwartetes geschehen lassen. Diese Worte sind geduldig und drängend zugleich, sie sind alles und nichts, zerfallen in ihre Einzelteile, setzen sich neu zusammen und gruppieren sich lyrisch, prosaisch oder dramatisch.

Die Müdigkeit in mir mahnt zur Ruhe, sie ist schwer und flügellos. Sie will in die Dunkelheit und traumlos schlafen. Sich hingeben an die Ohnmacht, vertrauensvoll versinken – nichts denken, nichts fühlen, nichts tun. Die Müdigkeit will ihr Bewusstsein verlieren, will ein Ort für die Stille und die Transformation sein. Stellt sich zur Verfügung als kleiner Bruder des Todes, jede Nacht bietet sie sich an – nimmt mich auf und entlässt mich wieder.

Und die Sehnsucht in mir träumt von Erkenntnissen, Ereignissen und Taten. Sie will Sinn stiften, leicht sein, tanzen. Sie will von mir zu dir, von ihr zu ihm – sie lädt die Sterne des Nachthimmels ein, ein Netz zu bilden und Schutz zugeben. Sie will Wärme schenken und Herzen beflügeln, die Stille still sein lassen, die Leere leer, das Verantwortungsgefühl groß, das Kerzenlicht erhellend, die Worte sich immer wieder neu konstituierend, die Müdigkeit sich selbst überlassend.

Und ich könnte diesen Text fortführen und weitererzählen: Was erzählt mir meine Angst, was die Erwartung und Hoffnung? Wovon spricht die Liebe und wovon der Tod? Was meint das Kind und was die Mutter in mir, die Frau, Freundin und Berufstätige?

Die Adventszeit und ich ringen und tanzen mit den verschiedenen Stimmen, meinem inneren Team auf dem Weg zum Weihnachtsfest. Mal spricht die eine Stimme lauter, dann wieder die andere. Mal lässt sie sich überwältigen, mal bewältigt sie… Mal scheint das Leben wie in Gold getaucht und Engelchöre singen. Und dann wieder rufen Pflichten, notwendige Erledigungen und der Himmel ist grau, hüllt die Welt in Nebel und macht sie nass. Der Weg nach innen ist nicht minder turbulent wie die Welt im Äußeren.

Sonntag, 27. November 2011

Tod und Geburt. Zwischen Himmel und Erde

Die Nacht entlässt mich mit einem diffusen Gefühl der Ungewissheit: Was gehört in die geistige Welt, was gehört auf die irdische Welt? Ich versuche den Klang meines Herzens zu hören, ihm nachzuspüren. Aber mich bedrängen Gedanken. Gedanken wie von Gespenstern geschickt: kühl, unsichtbar, beunruhigend. Ein fahles Gefühl der Unwägbarkeit umschwingt mich. Ich brauche eine Kerze, ich brauche einen Lichtpunkt, der in mein Inneres dringt, der mir Halt gibt.

Ich schaue in das Licht der Kerze, die neben deinem Bild brennt. Ich sehe dein Lächeln, deinen Blick in die Kamera der mir suggeriert, dass du mich anschaust. Dein Lächeln erstarrt in mir. Neben deinem Bild steht die Todesanzeige. Darin stehen die Daten klipp und klar. Dein Leben hier auf der Erde ist beendet. Das atmende Schwingen von Augenblick zu Augenblick muss sich transformieren. Das, was wir bisher kannten, am Leben des Anderen teilzunehmen, uns zu treffen, miteinander zu sprechen, Anteil zu nehmen, kann so nicht weitergeführt werden.

Deinen toten Leib habe ich gesehen. Er bleibt hier auf der Erde – von Rosen umkränzt. Du, so heißt es, seist nun in der geistigen Welt. Dort, im großen, unendlichen Sein. Dein Leben „nachbereitend“, Abschied nehmend, und dann, irgendwann, wieder „vorbereitend“, dich erneut der Erde nähernd. Wie das wohl sein muss, so ohne Körper? Ganz im Seelisch-Geistigen? Ich merke, dass ich gedanklich an Grenzen stoße, mein Herz empört sich, ich möchte dich gerne wiedertreffen.

Mein Tag ist ganz durch das irdische Leben geprägt. Mein Körper braucht Wärme, Nahrung und Bewegung. Meine Seele braucht Menschen, Vorhaben, Sinn. Und mein Geist sucht nach den Zusammenhängen, nach lebendigen Begriffen, nach einer Einbettung. Tage und Nächte wechseln einander ab, manchmal sanft, manchmal stürmisch, einsam oder gemeinsam, getragen vom irdischen Leben.

Was ist der Tod? Du bist weg und du bist da und ich bin irritiert. Aus meiner Spur geworfen worden. Was von Bedeutung ist sind Erfahrungen, Erlebnisse, daran kann ich mich halten. Was aber auch Aufmerksamkeit verlangt sind die Gefühle, die als Zeichen am Wegrand des Tages in die Nacht mitgenommen werden. Gefühle des Verloren seins, des Aufgehoben seins, der Begrenzung. Gefühle der Demut vor dem Leben und der Achtung vor dem Tod.

Ich höre deine Stimme. Deine Stimme, die nie wieder sprechen wird. Wie ist das zu denken, was passiert da? Ich erinnere mich an gemeinsame Zeiten. Wärme und Schmerz wechseln einander ab. Ich „kannte“ dich nur in deiner „Verleiblichung“ – habe ich überhaupt Zugang zum Großen, zum Ganzen? Zu dieser offenen Zukunft, die nur wie eine große und sanfte Ahnung zu erspüren ist und geistig unsäglich weit vor uns liegt?

Deine Tage auf Erden waren gezählt, so, wie sie für uns alle gezählt sind. Aber wir wussten es nicht, wir wissen es nicht, wir haben keine Handhabe in diesem Bereich. Ich ertrage die Tage nur mit Musik, nur mit dem Prayer von Ernest Bloch (aus dem Zyklus: From Jewish Life). Die letzten Novemberblüten schwinden in diesen Tagen dahin und leiten zu den klaren und kalten Sternennächten in der Adventszeit über.

Möge die Er-wartung dazu führen wieder eine physisch-seelisch-geistige Einheit zu werden. Wir gehen auf Weihnachten, auf die Geburt schlechthin zu, der – irgendwann – wieder ein Tod folgen wird.

Samstag, 19. November 2011

Anna. Prägungen am Ende der 60er Jahre im Ruhrgebiet

Anna ist ein Kind und sitzt auf der Küchenanrichte vor der Fensterfront. Sie schaut hinaus. Da sie sich in einem hohen, neuen, grauen Hochhaus befindet, hat sie einen weiten Blick. Sie sieht den Friedhof, dahinter das Opel-Werk. Das Werksgelände wird von riesigen, roten Backsteingebäuden gegliedert, darum herum stehen viele, viele Autos – ordentlich sortiert. Aus Annas Blickwinkel sehen sie wie Spielzeugautos aus.

Die Wohnung ist großzügig geschnitten, der Hochhauskomplex eine Neuerung gegen Ende der 60er Jahre. Wohnen, arbeiten und leben gehen ineinander über. Universität, Einkaufszentrum und Lebensräume sehen gleich aus. Grauer Beton – Hochhäuser. Hier trifft sich die junge aufgeschlossene Akademiker-Generation, die an der Basis des proletarischen Lebens gesellschaftliche Erneuerungen diskutiert. Hier, in der neu entstehenden Betonwüste, ist die gedankliche Quelle für ein zukunftsweisendes Leben nach der Katastrophe der beiden Weltkriege, hier werden gesellschaftliche Entwürfe konzipiert – alles wird anders, neu und besser.

Als Anna die Wohnung durchquert hat, steht sie auf dem kleinen Balkon. Sie kann gerade über die Betonbrüstung schauen. Sie sieht weitere Hochhäuser, dazwischen gepflasterte Wege auf denen man mit Mühe Rollschuh fahren kann, und kleine abgezäunte Wiesenstücke, auf denen manchmal ein Schild steht: Betreten verboten. In der Siedlung bewegt sie sich frei. Dort fahren keine Autos. Überall sind Kinder unterwegs und es gibt verschiedene Fraktionen, Clubs und Gangs.

Anna spürt, dass das Lebenskonzept ihrer Familie nicht mit allen anderen übereinstimmt – hier treffen Welten aufeinander. Sie soll zum Beispiel nicht weitererzählen, dass die roten Plakate, die überall auf ihrem Schulweg an den Wänden kleben, von dem Netz um ihre Eltern in einer nächtlichen Aktion „geklebt“ wurden. Nachdem sie aus dem antiautoritären Kinderladen in die gemeine Grundschule kommt, wird sie mit Lebensentwürfen anderer konfrontiert. Da sie das älteste Kinderladenkind ist, kommt sie „alleine“ in eine Klasse in der Grundschule, dort findet sie zwei neue Freundinnen.

Die eine heißt Kerstin. Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Die kleine Anna staunt, dass sie die Eltern mit einem Sie anreden soll. Hier gibt es Blumentapeten an den Wänden. Ein Wohnzimmer aus Eiche, Sessel und Sofas mit drapierten Wohnzimmerkissen darauf. Am Sonntag Sauerbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Auch geht man in die Kirche und zieht über die politischen Unruhen her, schimpft über Plakate, die überall hin geklebt werden. Anna spürt, dass es sich hier um ein gänzlich anderes Lebenskonzept handelt. Ihre Eltern scheinen diese Familie nicht besonders zu schätzen.

Die andere Freundin heißt Silvia. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern in einer kleinen Sozialwohnung. Abends geht die geschminkte Mutter, nachdem sie tagsüber die Wohnungen begüterter Familien geputzt hat, in die Trinkhalle um „noch ein bisschen Spaß“ zu haben. Anna hört hier Worte wie „Stubenarrest“ und Phrasen wie „darf ich nicht, hat Mutti verboten“ zum ersten Mal. Hier wird derbe geschimpft und die Mädchen müssen spuren. Rauchen, Biertrinken und abends mit einem Mann flirten – das sind lebenswerte Ziele.

Auch diese Familie gehört nicht zu den ebenbürtigen Gesprächspartnern von Annas Eltern. Jedoch bekommt sie für diese Freundschaft Unterstützung, denn „dem Proletariat“ müssen ja die Augen geöffnet werden – hier liegen die Keime für den gesellschaftlichen Umsturz. Bevor Anna am Abend zu Bett geht, wird beim Abendbrot mit Freunden der Eltern noch lautstark über „reaktionäre Bullenschweine“ diskutiert. Annas Eltern wissen wo es lang geht. Sie haben das richtige Verständnis für den gesellschaftlichen Umsturz.

Doch am nächsten Morgen sieht die Welt anders aus. Auf dem großen Parkplatz vor den Hochhäusern wurde ein Serieneinbruch in alle dort stehenden Autos durchgeführt. Auch das Auto von Annas Eltern wurde aufgebrochen. Und nun soll sie mit ihrem Vater zur Polizeiwache fahren, um Anzeige zu erstatten. Während sie auf der Polizeiwache warten, versucht sie ein Plakat zu lesen: „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Sie erinnert sich vage an das Gespräch am Abend zuvor, war da nicht von „Bullenschweinen“ die Rede? Es musste um eine andere Gruppe von Menschen gegangen sein…

Anna ist verwirrt. Was ist richtig, was ist falsch? Wer ist gut, wer ist schlecht? Worum geht es überhaupt? Und wofür sollen all diese nicht enden wollenden Diskussionen gut sein? Bei der nächsten Demonstration sieht sie, dass die Demonstrierenden von Polizisten (dein Freund und Helfer?) „begleitet“ werden. Oder sind es hier wieder „reaktionäre Bullenschweine“ die das Spalier rechts und links bilden? Und die Familie von Kerstin – wird der Vater bei den Nachrichten gerade über die Teilnehmer dieser Demonstration fluchen? Und Silvias Mutter, wird sie in der Trinkhalle etwas davon erfahren, wogegen auf den Straßen demonstriert wurde?

Mittwoch, 9. November 2011

Suche nach Trost.

Zum Tod von Angela Albeck-Henke am 4.11.2011

Wenn ein Geist stirbt,
wird er Mensch.
Wenn ein Mensch stirbt,
wird er Geist.
Novalis

Angela, du bist gegangen. Du hast dich blitzschnell aus der irdischen Welt zurückgezogen, bist von dieser Erde verschwunden. Plötzlich, unerwartet und überraschend. Die Tür der geistigen Welt hat sich geöffnet und du bist hineingeschlüpft. Lungenembolie wird gesagt. Keine Chance. Die Nachricht kam einige Stunden später. Deine große Tochter hat mich angerufen. Mutig und tapfer: „Du, die Mama ist gestorben.“ Diese Nachricht hat mich gepackt, sie macht mich sehr betroffen. Wir waren gleich alt und haben so viele gemeinsame Tage verbracht. Das was war, wird nun Erinnerung genannt.

Du warst zart und schmal gebaut und doch voller innerer Kraft. Zäh warst du in jeglicher Hinsicht. Es war immer eine Leichtigkeit um dich. Du hast voller Positivität in die Welt geblickt. Auch dann, wenn die Situation schwierig war. Du hast das Helle und Gute in der Welt hervorgehoben. Dich hat es immer ins Licht gezogen. Und diese Kraft hat dich nicht nur getragen, sondern diese hast du auch ausgestrahlt. Schönheit war dir wichtig, Ästhetik. Du trugst immer Schmuck, eine Perlenkette und Perlenohrringe. Gleichzeitig hattest du etwas ganz Bescheidenes.

Ich habe immer wieder gestaunt über dich, denn ich bin so ganz anders veranlagt. Was du wirklich in großartiger Weise konntest war, dich aus der Sympathie für einen Menschen heraus für dessen Themen zu begeistern. Dich dafür zu interessieren. In der Hinwendung zu anderen Menschen bist du immer ein Stück den Weg des Anderen mitgegangen, um deinen eigenen zu suchen. Du konntest offen und voller positiver Zuwendung sein. Soweit ich weiß sind dir Erfahrungen mit der Unterwelt erspart geblieben.

Dich hat die klassische Musik getragen. Und daraus konntest du nicht nur schöpfen, sondern du konntest damit auch andere tragen und erheben. Ihnen in der eigenen Musik, im Klang des Lebens eine Heimat geben. Deinen Blick hast du auch auf Kinder gerichtet. Auf deine eigenen und auf die Kindergartenkinder, die du begleitet hast. Du hast das Werdende im Menschen gesehen und unterstützt. Hast Fähigkeiten wachsen lassen. Und so warst du auch selber eine sich Wandelnde, im sanften Lufthauch des Lebens sich Bewegende, deren Standpunkt zwar klar, mir aber nicht immer zugänglich war.

Ich erinnere mich gerne an unsere erste Begegnung, ich stand an deiner Haustür, weil ich in ein fremdes Dorf gezogen war und bat darum, euch kennen zu lernen. Daraus erwuchs eine lebendige Freundschaft. Unsere Kinder waren sich jahrelang die nächsten. Wir haben den Alltag miteinander geteilt, aber auch zusammen gearbeitet. An geistigen Fragen zum Beispiel, du hast dich dem Rosenkreuzertum so nah gefühlt. Und wir haben gemeinsam im Kindergartenvorstand um das soziale Miteinander gerungen. Wir kamen beide aus der Stadt und waren auf dem Land gelandet. Die Jahre in Königsfeld sind für mich durch dich und deine Familie in leuchtender Erinnerung.

Unser letztes Gespräch handelte von einem möglichen Teilzeit-Studium an der Alanus Hochschule in der Kindheitspädagogik, damit du deine berufliche Tätigkeit hättest professionalisieren können. Dein Leben lag vor dir, so dachten wir alle, die Zukunft ganz offen. Aber plötzlich hat sich die Tür geschlossen. Nun blicken wir auf die irdische Vergangenheit und müssen mit dem plötzlichen Übergang umgehen. Das was kommt, deine geistige Zukunft, können wir nur erahnen. Angela, du bist mitten im Leben und plötzlich gestorben, in die geistige Welt zurückgekehrt. Ich werde dich vermissen und bin dir sehr dankbar, dass du meine Freundin warst.

Freitag, 4. November 2011

Kinder, Krieg und Komplexität. Emilie und Karl

„Kriegskinder“ nennt man sie, die „vergessene Generation“ – heutige Großmütter und Großväter – die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs geboren wurden. Wie war das damals eigentlich mit den Flüchtlingsströmen? Wie ging es diesen Kindern, die in die Unbehaustheit einer gepeinigten Generation geboren wurden und deren Kinderjahre durch die zerstörerische Politik der großen Männer in den Regierungen geprägt war? Was wissen wir davon und was ist daraus entstanden?

Wohin mussten sie ziehen, tagelang mit ihren kleinen Füssen laufen? Ihr Zuhause, ihre Betten und geliebten Spielsachen hinterlassend? Was hat sich in ihre Seelen eingegraben? Wie sind sie mit Angst und Furcht, Mord und Totschlag umgegangen? Wie oft mussten sie mit hungrigem Magen frierend ins Bett gehen? Und wie lang haben die Kinder und Mütter auf die Väter und Männer gewartet und gehofft?

Im Alter kommt die Vergangenheit hoch. Unbewusst. Irgendwie. Hat sie eine Verbindung zu den Wunden, die in Kindertagen geschlagen wurden? Emilie und Karl gehören zu dieser Generation. Sie haben ihr Berufsleben erfolgreich hinter sich gelassen, sind gesund, lebenslustig und erfreuen sich vieler kultureller Aktivitäten. Trotzdem scheint es mir so, als wenn sich ihre Vergangenheit nun bemerkbar macht.

Ich beobachte Emilie. Sie hat sich Zettel und Stift geholt und setzt sich mit ihrem Tee an den Küchentisch. Es wird eine Menge einzukaufen geben. Die Tage werden geplant – was gibt es wann zu essen? Es soll an nichts fehlen, morgens, mittags, abends – eventuell noch zwischendurch. Sie stellt sich die Mahlzeiten vor und berechnet die Anzahl der Eier. Natürlich stehen Milch, Butter und die verschiedensten Käsesorten auf ihrer Liste, aber auch Ingwer, Zitronengras und Kardamon. Die Listen werden lang und länger – sie differenziert die einzukaufenden Dinge gleich nach den Orten, an denen sie erstanden werden können.

Derweil sitzt Karl im Lehnstuhl und liest die Zeitung. Er ist bei den Immobilien angekommen, überfliegt die Angebote. Immer öfter denkt er daran, das alte Haus hinter sich zu lassen. Obgleich er schon Jahrzehnte darin wohnt, ist es ihm nicht zur Heimat geworden. Es müsste renoviert werden, so viele Ecken des Hauses schreien nach Pflege. Aber seit die Kinder groß und aus dem Haus sind, ist seine Energie diesbezüglich geschwunden. Seine Kräfte setzt er nun für die Malerei ein – ein Atelier hat er sich im verlassenen Kinderzimmer eingerichtet - werden dort Bilder gemalt, die die Vergangenheit aufarbeiten, oder solche, die die Zukunft vorbereiten?

Emilie beginnt vorzukochen. Sie will schon mal möglichst viel vorbereiten. Der Zeit vorauseilen – wer weiß, was kommt. Sie brutzelt, kocht und backt und der Kühlschrank ist wie immer zu klein. Wenn die Familie kommt, soll alles bereitet sein, sie möchte sich ihren Gästen zuwenden und dann nicht beschäftigt sein. Im Winter lassen sich die Vorbereitungen auf dem Balkon aufbewahren, aber auch da verdirbt schon mal etwas. Überhaupt passiert es immer öfter, dass Reste bleiben, Tag für Tag, und dass sie gegessen werden müssen, bevor die Speisen ganz verderben. Zur Sicherheit bewahrt sie auch einige Konservendosen in ihrem Keller auf – manche stehen dort seit Jahren.

Neulich hat Karl sich selber sagen hören, dass ein Umzug für ihn kein Problem sei, denn er sei ja in seinem Leben schon so oft umgezogen… Ist ihm dabei gar nicht aufgefallen, dass er schon fast sein halbes Leben in gerade diesem Haus lebt? Für die Kinder braucht es nicht erhalten zu bleiben – die sorgen für sich selber. Und so denkt er auch nicht. Nein, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und bleibende, zu übertragende Werte gibt es nicht. Karl lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Rotwein und schließt die Augen. Was will er – abgesehen von den Bildern -noch vom Leben? Das Haus bedeutet ihm nicht viel… Eigentlich hat er doch alles meisterhaft geschafft.

Könnte es sein, dass Emilie und Karl in dieser Hinsicht von ihrer Kindheit gelenkt werden – und je älter sie werden, um so mehr? Getrieben von einer Kraft, die ihnen in ihren Kindertagen, als sie am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Flucht waren, zur Überlebensstrategie, zum Normalzustand wurde? Die bange Frage, wie lange der Hunger bleibt, die Sorge um die nächste Mahlzeit – da wurde schon mal etwas Verdorbenes gegessen. Und die unausgesprochene Frage, wo das nächste Haus steht, das Obdach gewährt und für kurze Zeit Schutz bietet, prägte sich in der Zeit, als ganz Europa erschüttert wurde, tief in die Kinderseelen ein.

In Deutschland herrscht äußerer Friede. In den Herzen der Menschen aber, die im und nach dem Krieg geboren wurden, kommen die unverdauten Schrecknisse wieder ans Licht. Der Krieg und die Nachkriegszeit: wie gestern. Und gleichzeitig: wie in einem fremden Film. 'Persönliche Eigenheiten' nennt man die Charakterzüge. 'Individualitäten die das Leben geprägt hat'. Gibt es für die Kriegskinder auf ihre alten Tage, nachdem die meisten Lebensherausforderungen geschafft zu sein scheinen, ein Trauma aufzuarbeiten, eine Wunde zu heilen?

Samstag, 29. Oktober 2011

Orte verlassen und Sternen folgen. Über bestimmende Wege

Vor über zwanzig Jahren haben wir uns kennengelernt. Wir hatten damals beide zwei kleine Kinder. Wir standen vor dem Bergladen, als wir das erste Mal miteinander sprachen. Aus dieser Begegnung erwuchs eine Freundschaft, die in den Jahren, in denen ich noch vor Ort war, intensiv gepflegt wurde. Wir haben gemeinsam gelacht, gefeiert, gelesen. Nun bin ich schon lange weit weg und wir haben einander viele Jahre kaum wahrgenommen. Aber in diesem Sommer hat sich das geändert. Wir sind uns wieder begegnet.

Zwei Mal in meinem Leben hast du mir entscheidende Türen geöffnet, wofür ich dir noch heute sehr-sehr-sehr dankbar bin, denn sie haben meinem Leben eine Richtung gegeben.

Damals, als wir uns kennen lernten, waren wir einmal mit den Kindern im Freibad. Du erzähltest auf der Wiese sitzend, dass du am Abend in den Vorstand unseres Kindergartens gewählt würdest, und dass ihr noch Mitarbeiter suchen würdet. Und da ich freie Kräfte in mir spürte und dir vertraute, bot ich mich an. So begannen wir gemeinsam zu arbeiten. Ich entdeckte in mir eine Seite, die mir vorher verborgen war: Den Blick auf das Große und Ganze und gleichzeitig auf die kleinen irdischen Schritte im Detail. Vorstandstätigkeiten und Geschäftsführung waren viele Jahre auf beruflicher Ebene für mich bestimmend.

Ein wichtiges Thema zwischen uns waren auch immer Bücher. Wer hat was geschrieben, wie formuliert, welche neuen Inhalte gibt es zu durchstöbern, wie lässt sich das Leben verstehen? Als du mir einmal deine neuen Errungenschaften vorstelltest, hast du mir auch Lievegoeds letztes Buch gezeigt. „Über die Rettung der Seele“. Aber du meintest, dass das wohl eher nichts für mich sei. In dieser Annahme hast du dich damals getäuscht. Dem Manichäismus und daraus hervorgehend der Elias-Initiativgemeinschaft sowie Adventura und den begleitenden Taube-Gruppen habe ich mein Leben gewidmet – als wir schon lange nicht mehr am gleichen Ort lebten.

Jeder folgt den Sternen und Signalen in seinem Leben. Du hast einen ganz anderen Weg eingeschlagen als ich, deinen Weg. Insgesamt hast du elf Kinder geboren. Drei haben sich kurz vor der Geburt im Mutterleib verabschiedet und du musstest sie gehen lassen. Eins hat nur wenige Tage gelebt und ist dann in die geistige Welt zurück gekehrt. Sieben Kinder hast du, zwischen acht und sechsundzwanzig Jahren. Was für ein reiches Familienleben – du bist Mutter so vieler wunderbarer Kinder!

Aber es geht dir nicht gut. Der Familienalltag ist dir zu eng geworden. Du hast begonnen zu arbeiten, dich mit Menschen zu treffen, gehst regelmäßig tanzen. Und nun wirst du reisen, weit weg. Für drei Monate. Du suchst die Freude im Leben. Möchtest surfen lernen, die Sonne und den Strand genießen – du brauchst eine Zäsur, willst fremde Eindrücke, musst dich neu sortieren. Dünn bist du geworden – du hast sehr abgenommen in den letzten Jahren. Du kamst mir mit deinen 50 Jahren fast wie ein junges Mädchen entgegen.

Ich frage mich: Wohin führt dich dein Weg? Was sind dir deine Kinder? Jedes einzelne, in seiner Art und Weise? Und deine Familie? All die vielen gemeinsamen Jahre? Und was bedeutet dir dein Zuhause, dein Ort, an dem du lebst? Wohin willst du, was fehlt dir, was brauchst du? In Schicksalsfragen ist es nicht leicht, den Blick auf das große Ganze zu haben – da schieben sich oft kleine Ereignisse in den Vordergrund.

Drei Monate sind lang. Ich weiß, was es heißt, dem eigenen Stern im Leben zu folgen. Das ist nicht immer leicht, nein, es ist sogar oft verdammt schwer. Auf den Zuspruch des sozialen Netzwerks kann man gerade in diesen delikaten Momenten nicht unbedingt rechnen. Und auch ich zögere. Ich habe es schwer damit, was du vor hast – das habe ich dir auch gesagt. Aber ich will mir kein Urteil bilden, dazu habe ich kein Recht und keine Übersicht.

Ich vertraue darauf, dass es richtig ist, was du tust. Dass du den Abstand brauchst, das sehe ich. Aber was daraus folgt, das weiß ich nicht. Ich wünsche dir von ganzem Herzen eine gute Reise und hoffe für dich, dass sich neue Türen auftun, damit die vorhandenen Werke vervollkommnet werden können. Ich wünsche dir, dass du glücklich bist und dass die liebevollen Verbindungen von Herz zu Herz auch über weite Strecken erhalten bleiben. Du hast hier etwas aufgebaut – es gibt Menschen, die dich zurück erwarten, du hast einen Platz in deinem Schicksalsnetzwerk.

Montag, 24. Oktober 2011

Eigene Errungenschaften und Geschenke. Die Taufe

Anna wurde nicht getauft. Und sie fragt sich noch immer von Zeit zu Zeit, welche Bedeutung das in ihrem Leben hat. Sie wurde nach ihrer Geburt nicht dazu eingeladen, an der Christenheit teilzunehmen. Einmal hat sie auch mich danach gefragt, ob ich meine, dass das im Leben einen Unterschied mache. Das war vor vielen, vielen Jahren auf einer belebten Straßenkreuzung in einer großen deutschen Stadt mit vielen Hochhäusern.

Ich weiß es noch genau, und ich war damals über diese Frage überrascht. Ich wusste überhaupt keine Antwort darauf. Selber bin ich getauft worden – wie kann ich da wissen, wie sich jemand fühlt, der nicht getauft ist? Mein eigenes Getauft sein hat bislang in meinem Leben kaum eine Rolle gespielt. Jedenfalls denke ich das. Meine eigenen Kinder habe ich nicht taufen lassen. Irgendwie habe ich bislang angenommen, dass das nicht nötig sei.

Auf die Frage: „Was bist du?“ hatte Anna schon in ihrer Schulzeit keine Antwort. Jeder „war“ etwas – aber sie irgendwie nicht, sie gehörte nicht dazu. Gehörte keiner Kirche an. War weder evangelisch nicht katholisch noch gehörte sie sonst einer religiösen Gemeinschaft an. Religionsunterricht gehörte zum Curriculum. Sie wählte. Nach Mitschülern oder Lehrerpersönlichkeiten. Und sie wechselte. Immer wieder. Sie war „frei“.

Manchmal ging sie auch mit Freundinnen in die Kirche. Sonntags. Wenn „Gottesdienste“ angesagt waren. Anna staunte damals. Sie verstand nichts. Und ahnte, dass man darüber nicht redete. „Das Geschehen auf Golgatha“ war so ein Satz, der nicht zu hinterfragen war, und eine große Aura um sich hatte. Es musste etwas Besonderes dahinter stecken. Aber was? In ihrem Elternhaus spielte die Kirche keine Rolle. Höchstens in den Ferien, wenn es in Südfrankreich eine alte Kathedrale zu besichtigen gab, die aber irgendwie ein Zeugnis aus vergangenen Zeiten zu sein schien.

Später in ihrer Jugend fühlte sie sich dann autonom. Sie war nicht „gezwungen“ worden, einer Gemeinschaft anzugehören. Diese Haltung empfand sie als frei, unabhängig und modern. Und es war wirklich so, sie nahm „das Christentum“ als Geschichte, als Erzählung, als Idee. Aber sie blieb auch außen vor. Fühlte sich als Zuschauerin. Nicht als Beteiligte.

Als sie dann erwachsen wurde, begann sie einen Schmerz zu spüren. Ob christliches Gedankengut im Kopf seinen Platz hat, oder im Herzen ist ein großer Unterschied. Und sie wusste es: es hat mit der Taufe zu tun. Sie hat keinen „offiziellen Platz“ erhalten. War nicht eingeladen worden, am Christentum auf Erden mitzuwirken. Sie gehörte nicht zum Inneren der Gemeinschaft. Wenn, dann gehörte sie intellektuell dazu – und das ist etwas ganz anderes.

Damals verstand ich nicht, wovon Anna sprach, welchen Schmerz sie mir zeigte. Ob das wirklich mit der Taufe zusammenhängt, was sie da erzählte? Ich schlug ihr vor, sich taufen zu lassen. Aber das lehnte sie brüsk ab. „Nein“, sagte sie, „nein. Offensichtlich habe ich mir das für diese Inkarnation so ausgesucht. Vielleicht muss ich tatsächlich den Weg alleine finden, ihn bewusst gehen – und ihn nicht in die Wiege gelegt bekommen, so wie die meisten Menschen“. Dieser Weg ist steinig.

Anna kämpft immer wieder damit, Vertrauen ins Leben zu haben. Sie ringt mit innerer Verlorenheit und weiß manchmal nicht, wohin sie gehört. Ihre Kinder ließ sie taufen. Das war ihr wichtig. Ganz eindeutig. Und sie fand einen Pfarrer, der sich trotz der dargebotenen Geschichte darauf einließ. Es ging um die Kinder. Um das, was sie auf Erden zwischen Geburt und Tod empfangen können. Sie hatte so stark den Eindruck, dass die Taufe den Kindern etwas schenkt, etwas vermittelt und mitgibt, von dem sie keine Ahnung hat. Was sie ihren Kindern nicht geben kann.

Und so wandert sie weiter durch ihr Leben. Ungetauft. „Nicht-eingetaucht“. Und doch auf dem Weg zu Christus. Irgendwie. Alleine und mit einem offenen Herzen für das, was man Christentum nennt und was sich nicht in Kirchen abspielt. Für das, was zwischen mir und dir möglich ist. Wird es, ohne christlichen Empfang, ohne eine Segnung zu Beginn des Lebens, eine Aussegnung, eine christliche Verabschiedung am Ende des Lebens geben können? Diese Antwort hat das Leben ihr noch nicht gegeben.

Samstag, 8. Oktober 2011

Ein Gespräch mit Anna. Heimatlosigkeit in der zweiten Generation

Anna schaut auf den Boden. Dann hebt sie langsam ihren Kopf und schaut mich an. Sie sagt leise: Ich habe ein Buch gelesen. Schon vor einem Jahr. Und jetzt noch einmal. Das gleiche Buch. Es heißt: Kriegsenkel. Und es berührt und verstört mich gleichermaßen. Ich kann die Bedeutung noch nicht wirklich fassen. Es handelt über mich. Irgendwie. Ich befinde mich in einem Zustand der Verwirrung, des Berührtseins und der Nachdenklichkeit. Ihr Blick schweift in die Ferne.

Ja natürlich, ich kann etwas über den Inhalt des Buches sagen, sachlich ist das ganz einfach. Anna richtet sich auf, konzentriert sich, und spricht gefasst: Das Buch handelt über eine Generation in Deutschland, die zwischen 1960 und 1970 geboren wurde und deren Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Die Elterngeneration nennt die Autorin „Kriegskinder“ und die Kindergeneration, über die das Buch handelt, „Kriegsenkel“. Übertragen lassen sich die dargestellten Phänomene auf jedes Land und jede Zeit – Grundlage ist die Konstellation.

Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass es nicht nur nicht aufgearbeitete traumatische Erlebnisse von Kriegsteilnehmern in jeder Altersklasse gibt, sondern, dass diese oft verschwiegenen, vergessenen, banalisierten Kriegs-, Flüchtlings- und Angst-Erlebnisse gerade von Kindern, eine unbewusste Auswirkung auch auf die folgenden Generationen haben. In Fachkreisen… Ich unterbreche Anna und erinnere sie daran, dass ich gerne auf sie zurückkommen würde, wissen möchte, wie es ihr dabei geht. Anna schluckt. Das sichere Terrain, auf das sie durch die Inhaltsangabe gelangt war, soll sie also wieder verlassen… Ihr Blick verschwindet im Nichts.

Sie schaut mich mit einem fremden Blick an und erläutert leise. Meine Eltern wurden beide im Krieg geboren. Sie sind beide, als sie noch sehr klein waren, vertrieben worden, aus verschiedenen Richtungen. Sie mussten flüchten und ihr Zuhause, ihre Heimat zurücklassen. Beide Väter waren im Krieg, die Mütter haben sich jeweils in die Flüchtlingsströme eingereiht und um ihr Überleben gekämpft – was sie auch irgendwie bis in den Westen Deutschlands geschafft haben. Was sich dabei aber alles zugetragen hat, was meine Großmütter erlebt haben, das weiß ich kaum – außer ein paar vagen Andeutungen. Ihre Männer jedenfalls starben innerhalb der ersten zehn Nachkriegsjahre. Meine Eltern lernten sich zu Beginn der 60er Jahre im Studium kennen. Scheinbar unbeschadet. Und sie wollten alles anders machen.

Anna windet sich, sie ist deutlich verunsichert. (Was irritiert sie so?) Sie schaut an mir vorbei und flüstert. Ich bin in Friedenszeiten aufgewachsen. Ja, ich hatte alles, was ich brauchte. Bildung, ein Zuhause, Reisen, Kultur… Man strebte der Zukunft entgegen. Es steht mir nicht zu, zu klagen – das wäre unfair – ich hatte es doch gut. Trotzdem ist da ein Erbe zu verwalten, dem ich jetzt näher komme.

Wenn ich meine Eltern nach ihrer Kindheit fragte, dann kamen immer souveräne Antworten: dass sich ihre Erlebnisse nicht mit meiner Kindheit vergleichen ließen… dass es ein Abenteuer gewesen sei… dass es eben so war, wie es war… dass man nach vorne schauen wolle und ja jetzt alles anders sei… und nichts weiter. Bei diesen Worten schwang immer eine gewisse Härte mit, eine Distanz und gleichzeitig eine sanfte und weite Verlorenheit.


Ich verstehe: Vergangenheit und Zukunft sollten deutlich voneinander getrennt werden. Sie sollten nicht auseinander hervor gehen. Und die Gegenwart präsentierte sich als Insel, die von einem unbekannten Meer umschlossen wurde.


Anna fährt fort: Wenn ich auf mich schaue, darauf, dass „ich“ mich immer als Fremde fühle - egal wo ich bin! - obgleich ich gut sozialisiert und ausgebildet wurde – also nicht unter Minderwertigkeit leide – werde ich ganz schwach. Mein Selbstbewusstsein ist von meiner Grundstruktur her gut ausgebildet und kaum jemand kann nachvollziehen, dass ich mich oft so unbeholfen fühle. Immer das Gefühl habe, dass ich durchhalten müsse. Dass die Welt nicht auf festen Füssen stehe, sondern tagtäglich umfallen könne… Dass es „vorübergehende Lösungen“ seien, in denen wir uns bewegen, dass es keine Beständigkeit, keine Sicherheit, kein Zuhause gibt. Sondern, dass das Leben ein Überlebenskampf ohne Festpunkt ist.

Ich schaue Anna mit neuen Augen an, diese kleine Frau hat doch schon so viel in ihrem Leben geschafft – und sie ringt mit solch einer Lebensunsicherheit… Das hätte ich nie gedacht. Und, dass ihr Grundlebensgefühl durch ein unbewusstes Kriegstrauma ihrer Eltern, die in diesem Sinne nie eine Kindheit hatten und in eine durchgeschüttelte Welt mit Gefahren und Unsicherheiten geboren wurden, gespeist wird, akzeptiere ich als Möglichkeit sofort.

Samstag, 1. Oktober 2011

Michaeli. Der Kampf in uns

In diesen Michaelitagen strahlt die Sonne über Deutschland. Es ist warm und golden – die Natur lädt ein, sie schenkt Fülle, Wärme und einen blauen Himmel. Sind diese Tage als Gnadenfrist vor dem Winter zu verstehen – vor Kälte, Dunkelheit, Nässe und Rückzug? Der Herbst hat begonnen, wir streben schon längst der dunkleren Jahreszeit, dem Rückzug und der Einkehr entgegen – der Jahreslauf ist in der Mitte zwischen dem längsten Tag und der längsten Nacht angekommen; der Übergang von außen nach innen vollzieht sich Tag für Tag.

Während sich die Natur in diesen Tagen noch in ihrer Fülle zeigt und überquillt, es wird geerntet und die Gabentische werden reich geschmückt, scheint es, dass die Menschen sich schon der nahenden dunklen Jahreszeit zugewendet haben und in den zu bestehenden Kampf eingetreten sind. Außen und innen fallen auseinander: Zwischenmenschliche Differenzen, Auseinandersetzungen, Missverständnisse, Blockaden, Streit, Enttäuschung, Verunsicherung… Schwächen und Unsicherheiten zeigen sich, Unbeholfenheit und Unwägbarkeiten.

Als ich mit zehn Jahren in die Waldorfschule aufgenommen wurde, war das erste Ereignis zu Schuljahresbeginn das Michaelifest – was ich bis dahin nicht kannte. Ich verstand die Bedeutung des Festes damals auf kognitiver Ebene auch nicht, liebte aber auf Anhieb die michaelischen Lieder, die wir in Hülle und Fülle sangen und musizierten. Auch den Michaelsgeschichten hörte ich aufmerksam und voller Interesse zu. Für uns Kinder gab es Mutproben zu bestehen. Durch dunkle Gänge laufen, Hindernisse überwinden, Unbekanntes erkunden… Gefühl und Wille waren unmittelbar angesprochen.

Was für die Kinder Ende September durch Erwachsene gestaltet werden kann, ein Michaeli-Mutproben-Fest, damit dem Rechnung getragen werden kann, was die Jahreszeiten in ihrer christlichen Bedeutung für die menschliche Entwicklung anbieten, geschieht für Erwachsene auf anderer Ebene. Michael ist zwar dabei, wenn Georg gegen den Drachen kämpft, doch den konkreten Kampf muss Georg tatsächlich alleine ausfechten. Er steht einsam und klein mit dem Schwert da, wenn sich ihm die finstere Macht, die dämonische Drachenkraft nähert.

Wenn ich um mich herum schaue, sehe ich viele kämpfende, ringende, verunsicherte Menschen. Vornehmlich innerlich - aber durchaus auch lautstark und wortreich. Die Michaelizeit fordert heraus und ich fühle mich angehalten darauf zu achten, gegen welche Drachen ich kämpfe, und was nur Scheingebilde sind, die sich vor mir auftürmen.

Ich sehe Anna in der Ferne. Tapfer versucht sie aufrecht zu gehen. Von außen hageln die Anforderungen nur so auf sie ein und sie ist gefragt, ihr Standvermögen souverän zu verteidigen. Innerlich trägt sie eine Wunde, ist sie verletzt, gekränkt – und alles andere als zuversichtlich. Es ist ein Ringen zwischen Tag und Nacht, zwischen Vertrauen und Hoffnungslosigkeit – sie hat mir davon erzählt. Jetzt ist sie unerreichbar, ich ahne nur, dass sie in der Ferne und im Nebel Schritt für Schritt ihr Leben weiter zu beschreiten versucht.

Und ich ahne, womit Malte ringt. Seine Stimme am Telefon war leise, tastend, suchend. Eine Evidenz der Bedeutung der Dinge ist verschwunden – Verwirrung und Überforderung scheinen ihn zu überwältigen. Klarheit, Standvermögen und eine in das Netz der handhabbaren Bedeutungen eingelassene Betrachtungsweise gibt es nicht.

Die Welt im Großen, die Welt im Kleinen – es heißt, dass alles auseinander hervor gehe, ich aus der Welt, die Welt aus mir. Manchmal sind diese Durchdringungen nicht zu verstehen – ja sie avancieren sogar zu polaren Spannungen – und die Schnittpunkte sind weder zu erkennen noch zu ergreifen. Die Evidenz des Beziehungs- und Aufgabennetzes wird unsichtbar und die Sinnhaftigkeit entschwindet dem menschlichen Bewusstsein. Jeder stapft dann in seinem Schritt vor sich hin, ohne Wahrnehmung des Anderen.

Michael prüft den kämpfenden Georg in uns und erfragt die innere Souveränität jedes Einzelnen, er will aus der Schwäche heraus die Stärke entstehen lassen, die noch verborgen und gefangen liegt. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine kräftige Michaelizeit, in der jeder an seine schlummernden Kräfte anknüpfen kann und zeigt, was in ihm steckt – auch wenn er sich schwach fühlt -, auf das wir voller Zuversicht der dunkleren Jahreszeit entgegen gehen können und es in einigen Monaten Weihnachten werden kann.

Samstag, 24. September 2011

Im Zwischenraum. Fragen statt Antworten

Heute gibt es Fragen - keine Antworten.

Am Morgen
Wofür bin ich heute früh aufgewacht?
Was habe ich aus der Nacht mitgebracht?
Wie klingt das Gestern im Heute nach?
Wohin will ich, wenn ich in den Spiegel schaue?
Was bringe ich dem Tag mit?

Am Abend
Wie schaue ich auf den Tag zurück?
Was hat mich heute berührt?
Was ist mir heute gelungen?
Was habe ich heute vergessen?
Was kann ich der Nacht anbieten?

Wie hängen Tage und Nächte und Nächte und Tage zusammen?
Was kommt? Was vergeht? Was bleibt?
Was bin ich?

Samstag, 17. September 2011

Zukunft gestalten. Die soziale Beichte zwischen mir und dir

Was mich an vielen toskanischen Städten wie Firenze, Siena, Arezzo oder Pisa fasziniert, ist die bewahrende Haltung, die überall zu spüren ist: Es gab mal eine große Zeit in Italien… und die wird bewahrt. Bis heute, und vermutlich auch darüber hinaus. Es gab einmal eine Zeit, in der die Gegenwart gegenwärtig war. Als aus der Vergangenheit heraus die Zukunft gestaltet wurde. Das waren lebendige und aufstrebende Zeiten, die sich in der Kunst, der Stadtplanung und dem Bild des Menschen mit all seinen Möglichkeiten ausdrückte. Kurz, als der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit vollzogen wurde.

In der Renaissance erinnerte man sich an die Wurzeln in der Antike und schuf aus der Verbindung etwas Neues: den Menschen, der zum Schöpfer seines eigenen Lebens wurde. Die Künstler begannen zum Beispiel ihre Werke zu signieren, persönlich Verantwortung zu übernehmen und sich von Kollegen zu unterscheiden. Wer heute in die toskanischen Städte reist, kommt nicht darum hin, seinen Blick auf die Werke aus der Renaissance zu werfen. Und die Italiener sind noch heute stolz darauf, was ihre Landsleute einst vollbracht haben.

Die Renaissance war eine große Zeit. Ist Italien heute ein Land der Vergangenheit? Ein steinernes Mahnmal der aufstrebenden Kräfte von damals? Wo sind die Kräfte heute, wo wird nun an der Zukunft gebaut? Wo bündeln sich die Kräfte, so dass ein weiterer Bewusstseinssprung gemacht werden kann?

Als ich in diesem Sommer in La Verna war, dem Ort, an dem der Hl. Franziskus seine Offenbarung hatte, habe ich eine skurrile Situation erlebt. Mit vielen anderen Touristen lief ich den Rundgang durch die Gemäuer auf dem Berg. Die Italiener um mich herum palaverten laut und gestenreich. Von heiliger Stille war nichts zu erleben. Auf einmal wurde ich auf zwei schmale Türen aufmerksam, die direkt nebeneinander in einem langen Gang auftauchten. Die obere Hälfte war jeweils aus Glas, so dass jeder, der hinschaute auch sah, was sich dahinter (nicht) verbarg.

Es war ein Beichtstuhl. Getrennt durch eine vergitterte Trennwand. Und auf der einen Seite saß ein dunkel gekleideter Mönch, auf der anderen Seite eine junge, elegante Frau mit langen blonden Locken. Ich sah, dass die Frau mit gesenktem Haupt sprach und der Geistliche auf der anderen Seite zuhörte. Ich nahm an, dass sie beichtete und er ihr die Absolution erteilen würde. (Und die Touristen schauten durch die Glastür dabei zu.)

Mir sprang unmittelbar ins Bewusstsein, dass dieses Vorgehen zwar immer noch ein menschliches Bedürfnis ist, in seiner Art aber vollkommen verfehlt praktiziert wird. Die Zeit, in der sich ein Individuum über ein anderes „erheben“ und jemanden von seinen Verfehlungen freisprechen kann, ist meines Erachtens absolut vorbei.

Was heute zeitgemäß ist, ist eine „soziale Beichte“. Ist das offene und gleichzeitig sehr intime Gespräch mit dem oder den Mitmenschen. Zum einen braucht es eine kleine Gruppe von Menschen, die sich dafür öffnen, demjenigen, der sich zeigt, zuzuhören. Und zum anderen ist das, was „früher“ die Absolution eines Geistlichen war, der eigene „Lern- und Verwandlungsprozess“ geworden. Dafür braucht es einen geschützten Raum (das eigene Lebensumfeld), der heute zu jedem Zeitpunkt unseres Alltagslebens und an jedem Ort geschaffen werden kann.

Wenn wir uns als Menschen mit unseren Stärken und Schwächen nicht mehr voreinander verstecken, sondern uns für zwischenmenschliche Begegnungen bereitmachen, entsteht ein Raum, der uns in die Zukunft führt. Der eine neue „heilige Kathedrale“ zwischen mir und dir (Emmanuel Lévinas) entstehen lässt, in der Kerzen entzündet werden können und ein jeder Asyl findet, der darum bittet.

Vielleicht ist die Zeit vorbei, in der ein Volk oder ein Land zu einer Hochkultur avanciert, die wir mit Jahreszahlen und auf der Landkarte verorten können. Ich bin überzeugt davon, dass die Zeit begonnen hat, in der die Zukunft eine Hochkultur hervorbringt, die zwischen mir und dir entsteht. Kathedralen werden zwischenmenschlich entstehen und Bußvorgänge (wenn sie dann noch so heißen) werden zu Anteilen des sozialen Lebens.

Ich kenne einige Gruppen, in denen die Wege erkundet werden, auf denen eine erneute Renaissance des Menschen stattfinden kann – vielleicht ohne Steinbauten die noch nach Hunderten von Jahren angeschaut werden können, sondern auf ätherischen, zwischenmenschlichen Ebenen, die freie Individuen unterstützen, ihre eigene Biographie – in einem sozialen Kontext! – zu gestalten.

(Ich denke zum Beispiel an die Arbeit von Bernard Lievegoed, an die Elias-Initiativgemeinschaft, an Adventura, an die Arbeit von Coenraad van Houten, an NALM www.nalm.net )

Sonntag, 11. September 2011

Und wieder Parzival. Na und?

Die Frage, ob Parzival für die Deutschen steht, ist müßig. Nachdem die Geschichte von Perceval durch den altfranzösischen Dichter Chrestien de Troyes an Wolfram von Eschenbach gelangt war, wurde sie in mittelhochdeutscher Sprache niedergeschrieben. Die deutsche Kultur ist auch heute noch stolz auf das große epische Werk und präsentiert es gerne. Es ist kein ausgesprochen „deutscher Weg“ den Parzival geht, nein, es ist ein mitteleuropäischer – würde ich sagen. Als ich die Geschichte mit 17 Jahren zu ersten Mal las, spürte ich eine Zuneigung zu dem Netzwerk um Parzival, zu dem Geschehen als solchem und vor allen Dingen zu den besonderen Namen all der verschiedenen Figuren.

Lange Zeit stand für mich der Umstand, dass Parzival immer wieder eine neue Chance bekommt, obwohl er sich so oft etwas zuschulden kommen lässt, im Vordergrund. Sein Lebensweg ließ sich durch die Geschichte verfolgen, seine Fehltritte beklagen und am Ende die Gralskrönung mitfeiern. Parzival wurde, obwohl im Mittelalter geschrieben, der Inbegriff einer modernen Biographie in der Neuzeit, zu der das Dunkle, das Böse, das Falsche und das Unmoralische dazugehören.

Wenn man die Erzählung in Krisenzeiten zu Rate zieht, kann sie Hoffnung, Einsicht und Durchhaltevermögen schenken. Denn, unwiderlegbar, Parzival hat es – am Ende! – doch noch geschafft. Wenn es stimmt, dass seine Biographie exemplarischen Charakter hat, dann frage ich mich manchmal, an welcher Stelle ich mich gerade befinde. Habe ich etwas „falsch“ gemacht, geht es „wieder“ abwärts? Oder habe ich etwas verstanden und es geht einen kleinen Schritt aufwärts? (Auch interessant wäre es, die deutsche Geschichte auf das Parzival-Geschehen zu übertragen. An welcher Stelle könnte man den Holocaust ansiedeln? Und, gelingt so ein Weg tatsächlich „immer“ – führt er „immer“ zur Versöhnung?)

Heute stehen für mich in Bezug auf die exoterische Parzival-Geschichte nicht mehr so sehr Fehler und Wiedergutmachungen im Vordergrund, sondern die „Möglichkeit“, die sich auf esoterischer Ebene anbietet, und die mich durch ihr Angebot fasziniert:

Parzival beschreitet – exemplarisch – seinen Lebensweg, der ein Einweihungsweg ist. Das Ziel diese Weges ist: individuelle Freiheit und geistige Autonomie zu erringen. Geistesgeschichtlich betrachtet ist es der erste Gralshüter „Titurel“, der der Träger dieses Impulses für die Menschheitsentwicklung ist, und sie vom alten Priesterkönig Melchisedek übernommen hat, und der sein hohes Amt nun, am Übergang von den alten zu den neuen Einweihungen, an „einen“ Schüler weitergibt, der sich Parzival nennt. Parzival wird Träger seiner Fackel.

Ich erinnere an die Erzählung: Parzival kommt nach seinem langen Weg ein zweites Mal in die Gralsburg. Diesmal wird er von Kundry, der Gralsbotin, geführt. Auch Feirefiz, sein heidnischer Bruder ist dabei (was schon an sich eine unglaubliche Erneuerung ist!). Auf esoterischer Ebene wird beschrieben: Als Parzival dem alten Greis Titurel gegenübersteht, verschwindet für ihn die ganze Welt. Stattdessen wächst ein pflanzenartiges Gebilde, einem Baum ähnlich, immer größer und schneller heran. Es ist der Lebensbaum, der schließlich den ganzen Raum erfüllt. Im Vordergrund erscheint eine Lilie, eine weiße Lilie, die einen übelriechenden Geruch verströmt.

Für Parzival ertönt die Stimme von Blanchefeur: „Das bist du!“

Die Lilie stellte alle Eigenschaften dar, die Parzival mit Hilfe der Götter aus seiner Seele vertrieben hatte, die aber noch nicht gänzlich verschwunden waren, die innerlich noch nicht verarbeitet und transformiert worden sind. Leidenschaften und Schmerzen sind unmittelbar erlebbar. Das ist ein schockierendes Erlebnis für Parzival. Nach dieser Erkenntnis verschwindet alles. Finsternis umgibt ihn. In der Dunkelheit entsteht etwas Neues: eine rote Rose erscheint an einem schwarzen Kreuz.

Und die Stimme von Flos ertönt: „Das werde du!“

Parzival sieht das tödliche schwarze Kreuz. Er sieht die spitzen Dornen. Und er riecht den wunderbaren Duft. Er versteht: Er muss noch einmal beginnen. Ohne die Hilfe der Götter. Er muss sein niederes Ich an das schwarze Kreuz schlagen und Christus in seinem Sterben am Kreuz folgen. Erst dann kann er individuelle Freiheit und geistige Autonomie erringen.

Gerade an der Stelle, an der die exoterische Geschichte mit der Gralskrönung des „tumben Toren“ endet, beginnt der esoterische Weg. Ist die Menschheit (die mitteleuropäische?) auf ihrem irdischen Weg, durch Fehler, Schuld, Mord und Unmoral, nun am Tor der geistigen Einweihung angelangt, um von einer weißen Lilie zu einer roten Rose zu werden?

Die vielfältigen Lebensbeziehungen laden zu dieser Transformation ein. Es heißt, dass es heute keine geheimen Einweihungsorte mehr gibt, sondern sich jeder Bahnhof dafür zur Verfügung stellt. Jeder kleine Blumenladen an der Ecke hat Lilien und Rosen. Und die menschlichen Bezüge bieten das Material für die Transformation: die verwandtschaftlichen Verbindungen, die jeder von uns hat, die freundschaftlichen, die funktionalen, die gesellschaftlichen, legalen, illegalen und geistigen. Jeder von uns kennt freie und unfreie menschliche Verbindungen, gewollte und ungewollte, glückliche und unglückliche – bewusste und unbewusste. Das mehrdimensionale Netz von menschlichen Bezügen ist das Einweihungsmaterial für jeden Parzival von uns.

Die Hoffnung, dabei zur Rose zu werden, ist ein schönes Ziel.

Samstag, 3. September 2011

Momente. Sandkörnchen im Getriebe

Samstag, 23.21 Uhr
Ich sitze noch immer am Computer. Switche hin und her. Postfächer, Internet, Dokumente… Für eine Fußnote brauche ich noch Informationen. Werde ich sie über den Computer bekommen, dem virtuellen Eingangstor in die ganze Welt? Ich sitze in einem kleinen Nest und fühle mich wie am Puls der Zeit. Internet macht‘s möglich. Zwischendurch kommt eine Message aus den USA, ein Skypeanruf, eine Mail, dann eine SMS. Ich schreibe, recherchiere, lese. Und plötzlich spüre ich meine Müdigkeit. Die Leere in mir. Wo findet das wirkliche Leben statt?

Sonntag, 9.53 Uhr
Wir sprechen am Telefon miteinander. Ich höre mir die Neuigkeiten an, erfahre etwas über den Stand der Dinge. Wir sprechen über die Alltagssorgen mit den beiden kleinen Kindern. Und über die wunderbaren Freuden, die jeder Tag bereit hält. Das Leben aus Kinderaugen sieht so anders aus! Die "Dinge“ sind lebendig, werden eingeladen mitzuspielen, werden verwandelt, genutzt und plötzlich wieder fallen gelassen. Welch ein erhabener Moment, das erste Mal den eigenen Namen zu schreiben. Wie viele Buchstaben werden in ihrem Leben noch vor ihr liegen?


Montag, 14.09 Uhr
Ich sitze im Garten auf einem der roten Liegestühle, mitten auf der Rasenfläche. Die Sonne scheint warm, ich spüre die Wärme, wie sie meinen Körper erreicht und bedeckt. Ich trinke eine Tasse Espresso und schließe die Augen. Es ist still. Plötzlich spüre ich, wie an meinem Bein etwas an mir vorbei streichelt, es ist die Katze. Ohne, das etwas zu hören ist, schleicht sie durch das Gras. Hat etwas ins Visier genommen – einen Schmetterling? Ich blicke nach oben, die Blätter des Apfelbaumes tanzen leise vor sich hin. Dazwischen blauer Himmel. Die Natur schenkt.

Dienstag, 20.46 Uhr
Wir sitzen zu sechst um einen Tisch. Unsere Alter reichen von 19-86 Jahren. Der Zweitjüngste spricht. Erzählt von seinen Erlebnissen. Von einem Ort, an dem etwas Neues probiert wird. Er berichtet von dem, was ihn beschäftigt. Was seine Fragen an die Zukunft sind, wovon er träumt. Die Älteren von uns hören das, fühlen sich an ihre eigene Jugend erinnert und gleichen innerlich ab. Was ist aus meinen Idealen geworden? Wie lebe ich mein Leben, womit habe ich mich abgefunden und wofür gehe ich? Wie viel Gestaltungskraft habe ich, was setze ich um?

Mittwoch, 06.21 Uhr
Ich sitze im Zug. Fahre durch den Schwarzwald. Sehe, wie die Natur langsam erwacht. Tau liegt auf den Wiesen, Nebelschwaden hängen in der Luft. Das eintönige Geratter des Zuges verleitet zum Nachsinnen und Träumen. Auch die anderen Fahrgäste scheinen vor sich hin zu dämmern. Ich sehe zwei Rehe, die sich umblicken und zum Waldrand laufen. Die Natur zeigt sich offen und verwundbar. Langsam bricht die Sonne hervor. Der Tag ist noch jung, schön und gnädig. Als ich umsteigen muss ist der Zauber vorbei. Im ICE herrscht Geschäftigkeit.

Donnerstag, 11.58 Uhr
Wir sitzen im Büro und besprechen die Arbeit. Machen To-do-Listen. Blicken auf die Tage und Wochen vor uns. Was steht an? Was muss getan werden? Die Kraft des Sommers sitzt noch in unseren Gliedern – es werden Pläne geschmiedet. Ein Blick nach vorne, der große Wurf. Aber auch die Vergangenheit meldet sich. Das, was damals vor uns lag, die von langer Hand organisierten Ereignisse, werden nun auf uns zukommen. Das, was in der Vergangenheit für die Zukunft geplant wurde, wird nun Gegenwart. Es gilt: dabei zu sein, mitzumachen. Und wieder eine neue Zukunft zu organisieren.

Freitag, 16.37 Uhr
Ich blicke zurück. Die Woche neigt sich, eine neue wird in Kürze beginnen. Tag um Tag dreht sich die Erde. Sonnenauf- und -untergang – unwiderruflich – Tage und Nächte kommen und gehen. Zurückblicken kann ich, so lange mein Gedächtnis mich nicht verlässt – vorausblicken kann ich, soweit meine Fantasie reicht. Ich stehe dazwischen und nehme wahr, gestalte, nehme hin, freue mich oder lehne mich betrübt zurück. Das Rad des Lebens dreht sich. Wie ergeht es den anderen Sandkörnchen im Getriebe?

Freitag, 26. August 2011

Zurück. Da und dort, dies und das

Ich könnte davon erzählen, dass ich im „Urlaub“ war. Dass ich um die Genehmigung gebeten habe, mich für eine Weile zurückzuziehen, dass ich mich, mit der Erlaubnis meiner Leser, verabschiedet habe und dass ich mich, nach dieser Entschuldigung selber entlassen habe. (Die Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes „urloup“ ist wirklich wunderbar! Danke Katharina.) Und ich könnte erzählen, was ich nach dieser Befreiung, diesem Abschiedsgruß getan habe.

Ich könnte davon erzählen, dass ich geschrieben habe. 31 801 Wörter (das sind 230 595 Zeichen – sagt der Computer), am Stück, in wenigen Wochen. Und dass ich in diesen Tagen dabei bin, diese Worte immer wieder zu lesen. Sie zu korrigieren, umzustellen, eins hinzuzufügen, ein paar wegzulassen… Geschriebene Worte sind geduldig – und gnadenlos. Wie bringe ich den Klang meiner Stimme auf das stille Papier, wie nuanciere ich die verschiedenen Ausdrücke? Geschriebene Worte sind messerscharf, sie können mich einkleiden aber auch ausziehen.

Ich könnte davon erzählen, dass ich in Florenz war. Dass mich die Stadt wieder berührt hat – trotz ihrer vielen Steine und der wenigen Erde. Ich habe geschwitzt und geschwiegen und mir haben die Füße wehgetan. Ich habe versucht, mich mit den vielen Menschen zurechtzufinden und darauf gelauscht, was die Steine, die alten Zeichen erzählen. Und es gab etwas zu hören. Etwas Schönes und Trauriges zugleich. Die Stadt mahnt. Noch immer. Und wartet auf Erlösung.

Ich könnte davon erzählen, dass ich mich nach guter Literatur sehne. Nach Geschichten. Gedichten. Dass ich in fremde Wortwelten eintauchen möchte, mitgenommen werden will. Dass ich nach meinen eigenen vielen Fachworten, die ich aufs Papier gebracht habe, leer bin. Die plötzliche Ruhe bringt Unruhe. Wo sind die Worte, die für mich gedacht sind? Die lyrischen, elegischen und hymnischen? Die Worte, die ich brauche? Was machen meine Worte, wenn sie nicht bei mir sind? Wie kommen sie zu mir?

Ich könnte davon erzählen, dass ich die Wärme dieses Sommers (immer dort, wo ich war, schien die Sonne!) unglaublich genieße. Dass ich mich aufgehoben fühle. Und dass ich mich daran labe reife Pfirsiche zu essen, Melonen, Trauben. Dass ich am Abend gerne Rotwein trinke und mir den Sternenhimmel anschaue. Dass ich staune, was die Natur hervorbringt – besonders in der Toskana. Wie Natur und Kultur ineinandergreifen – wie eine würzige Pizza entsteht!

Ich könnte davon erzählen, dass ich manchmal verwirrt bin. Dass ich gar nicht so genau weiß, worauf es ankommt. Was ich will. Was ich soll. Wohin mein Weg mich führt. Dass ich meine eigenen Worte suche, hoffe, mich im Schreiben zu finden. Fragen, antworten, erzählen – mit Sprache nach dem Unsagbaren tasten und es zu umreißen versuchen. Der Weg ist das Ziel - Blogtexte schreiben gehört zu meinem Weg. Jede Woche eine neue Wortcollage (manchmal vielleicht auch ein kleines Kunstwerk?), ich bin wieder da!

Montag, 1. August 2011

Urlaub!

Ich bin unterwegs! Erst in ein paar Wochen werde ich einen nächsten Blogtext veröffentlichen. Bis dann! Sophie Pannitschka

Sonntag, 24. Juli 2011

Spurensuche. Ein innerer Moment

Es ist still um mich herum, die Welt scheint in Watte getaucht zu sein, ich blicke nicht durch. Ich bin allein und fühle mich frei. Ich sollte etwas tun. Aber ich mag nicht. Es braucht einen Augenblick Zeit. Ruhe. Einen Blick nach innen. Warte ich auf die Welt? Wartet die Welt auf mich? Ich sitze an meinem Tisch und schließe die Augen.

Und denke an euch: Wie es euch wohl geht, wo ihr wohl heute seid? Ihr wolltet in zwei Tagen zweieinhalbtausend Kilometer fahren, um an einen bestimmten Ort zu kommen. Einen Ort, von dem ihr euch etwas erhofft, wo etwas geschieht. Eure Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche tragen euch, lassen euch weit fahren, beflügeln eure Möglichkeiten. Ihr befindet euch am Eingangstor der Zukunft – und das wisst ihr, die Klinke habt ihr schon in der Hand.

Und ich denke an dich: Du hattest Geburtstag, bist 50 Jahre alt geworden, und ich habe noch nicht angerufen. Ich konnte auch nicht zu deinem Fest kommen, du bist zu weit weg, es wäre ein Weg in meine Vergangenheit gewesen. Und ich hätte mich gerne darauf eingelassen. Wir sind ein Stück des Weges zusammen gegangen – das ist lange her. Wie mag es der oder dem gehen? Es wäre sicher schön gewesen, dich in deinem Netz zu sehen, zu dem auch ich – irgendwie – gehöre.

Und ich denke an dich: Du hast Stress, das weiß ich. Es war viel in der letzten Zeit. Jetzt beginnen die Ferien und es gilt die inneren Türen zu schließen. Die offenen Projekte bleiben brach liegen, manches wird der Witterung nicht stand halten, über anderes wird Gras wachsen und noch wieder andere Projekte werden einfach auf Vollendung warten. Die Herausforderung heißt: loslassen und gleichzeitig dabeibleiben. Eine Gradwanderung.

Und ich denke an dich: Auch du sehnst dich nach den Ferien – danach, keine Termine zu haben, nicht funktionieren zu müssen, aber atmen zu können. Den Herzschlag zu beruhigen, in ein Gleichmaß zu bringen, Ruhe einkehren zu lassen. Den Zwischenraum zu finden, den es zwischen allem oder nichts geben muss. Vorhaben und Kontakte pflegen. Ich wünsche dir, dass du schreiben kannst, dass du dein Manuskript wieder aufnimmst und es vollendest – es hat es verdient.

Und ich denke an dich: Du wirst die nächsten zehn Tage in einem großen Haus allein sein – das ist neu und ungewohnt für dich. Ob du das wirklich magst, das weiß ich nicht, aber du wirst es tun. Du hast einen starken Willen, der dich führt. Manchmal überwältigt er dein Gefühl – und du musst das Ergebnis ausbaden. Aber wir werden uns in der Sonne wiedertreffen. Und ich werde dir einen besonderen Ort zeigen – wenn du dich darauf einlassen kannst.

Und ich denke an dich: Schon viele Jahre habe ich nichts mehr von dir gehört. Dein Alltag ist mir unbekannt, deine Stimme fern. Und trotzdem denke ich an dich. Wüsste gerne, was du tust, wie es dir geht. Spüre noch immer das unerträgliche Schweigen zwischen uns – man nennt es einen Bruch, den wir beide nicht gewollt haben. Eine intensive Zeit der gemeinsamen Arbeit und einer fruchtbaren Freundschaft hat sich aufgelöst, die Spuren wurden im Sande verweht.

Und ich denke an dich: Mit Vehemenz bist du auf diesen Moment zugegangen, hast alle Schranken überwunden und fragst dich jetzt, ob du weiter gehen möchtest. Die Kraft, mit der du bis zu diesem Punkt gekommen bist schwindet – es sind neue und andere Ressourcen, die nun gefragt sind. Ich glaube schon, dass du sie aufbringst, aber ich glaube auch, dass sich dein Leben ändert – und zwar kräftig.

Und meine innere Reise durch mein Netzwerk geht weiter. Spurensuche, hie und da ein Fünkchen Gold, aber auch Traurigkeit. Fragen und Gedanken entstehen; Blickwinkel und Perspektiven ändern sich; Nähe und Distanz wird spürbar; Wünsche und Hoffnungen regen sich. Ich sitze noch immer allein an meinem Tisch. Aber es ist warm geworden. Den Verbindungsspuren meines Herzens durch das Land und auf der Erde zu folgen, bringt ein Gefühl des Aufgehoben-Seins im Allein-Sein.

Samstag, 16. Juli 2011

Ein Foto. Alte und neue Welt treffen aufeinander

Meine Großmutter kam noch aus dem 19. Jahrhundert. Lange vor ihrer Geburt wanderte die Familie aus dem Süden Deutschlands mit dem Deutschen Orden nach Estland aus und gehörte dort zu den sogenannten deutschen Kulturträgern. Jedenfalls wird das so erzählt. Das Land stand, inmitten seiner wechselvollen Geschichte, in jenen Jahren unter dem Schutz der russischen Zarenkrone, in der Schule wurde russisch gesprochen und ein Pass trug das russische Siegel.

Die Straßennamen jedoch waren deutsch, alles was mit der Universität und Kulturellem zu tun hatte ging von der deutschen Bevölkerung aus, man sprach und studierte auf Deutsch. Die Ebene des Alltags mit Kutscher, Gärtner und der Landbevölkerung spielte sich auf Estnisch ab. Das Kindermädchen sprach Französisch, was ebenfalls die Sprache der Empfänge war. Meine Großmutter konnte bis ins hohe Alter fünf Sprachen sprechen.

Sie war 21 Jahre alt, als sich die Oktoberrevolution abspielte – bis dahin kannte sie kein elektrisches Licht und nichts von dem, was dazu gehörte. Mädchen, Frauen und Damen trugen Kleider, lange Kleider. Frauen in Hosen waren undenkbar. Als Kind hörte ich den Erzählungen meiner Großmutter von damals immer staunend zu. Nichts von dem fand sich in meiner Welt.

Weder konnte ich mir diese Form der Vielsprachigkeit vorstellen, noch konnte ich mir auch nur halbwegs denken, wie man ohne Strom leben könnte. In unserer Neubauhochhaussiedlung wurde nur deutsch gesprochen, schon als kleine Kinder fuhren wir mit dem Fahrstuhl bis in unsere Etage, das Telefon klingelte ohne Unterlass, die Ferien verbrachten wir in fremden Ländern, wohin wir mit dem Auto fuhren und das Gemüse wurde im Supermarkt gekauft.

Meine Großmutter erzählte mir auch von ihrem Sommerhäuschen am See. Dorthin fuhr man für die hellen Monate, in denen es nachts nicht dunkel wurde. Und sie schwärmte von den Blaubeeren – den unendlich vielen Beeren, die im Sommer gesammelt und eingemacht wurden. In mir entstanden innere Bilder. Bilder, von denen ich nie ganz sicher war, ob sie etwas mit der Realität zu tun hatten.

Viele, viele Jahre später, meine Großmutter war fast einhundert jährig einige Zeit vorher gestorben, fuhr ich dann einmal nach Estland, um den Spuren meiner Familie, die die alte Zeit und die alte Welt gewaltsam hinter sich lassen musste, zu folgen. Krieg und Vertreibung und wieder Krieg standen damals an. Der eine Bruder auf der deutschen Seite, der andere auf der russischen. Die Schwester nach Sibirien verbannt. Flüchtlingstracks gen Westen, manchmal ein Wiedersehen, oft aber auch eine gnadenlose Stille zwischen Menschen, die sich nahe standen und sich in dieser Welt nicht wieder sehen konnten.

Ich las die alten überlieferten Geschichten, die schrecklichen und die schönen Erinnerungen, sah mir alte Fotos an, studierte historische Stadtpläne, begegnete alten Wappen meiner Familie und versuchte mir aufs Neue vorzustellen, „wie das alles war“.

Äußerlich war ich eine Touristin, innerlich suchte ich den Boden unter meinen Füßen. Das Haus meiner Groß- und Urgroßeltern, direkt neben der Universität in der Gartenstraße in Dorpat war abgebrannt, es stand nicht mehr. An dieser Stelle hatte man einen kleinen Platz errichten lassen, der an die Vergangenheit mahnte. Meine Vorfahren waren Fotographen gewesen, die ersten damals, dort oben, im Norden. Auch die Zarenfamilie in St. Petersburg hatte mein Urgroßvater fotografiert – so hieß es. Aber für mich blieb das alles eine vage Vorstellung, Geschichte eben.

Als ich dann aber in ein Antiquariat trat und mich umsah – möglicherweise hatte meine Familie mit solchen Möbeln, die dort zum Verkauf angeboten wurden, gelebt? – sah ich eine Schachtel mit alten Fotos. Retuschierte Fotos auf dicken Kartons. Die abgebildeten Portraits sagten mir natürlich nichts. Aber dann drehte ich ein Bild um und las die Aufschrift: Fotoatelier Arthur Schulz. Gartenstraße 1. Dorpat (heute Tartu). Der Fotograf war mein Urgroßvater.

Und plötzlich wurde alles real. Die Geschichten bekamen Hand und Fuß. Dieses Bild hatte mein Urgroßvater gemacht. Ihm gehörte das damals einzige Fotoatelier in Dorpat. Meine Großmutter hatte mit ihm dort gearbeitet. Bis zum Hitler-Stalin-Pakt, der beinhaltete, dass die Deutsch-Balten innerhalb eines Tages fliehen mussten. Das Foto ist also durch die Hände meiner Familie gegangen. Ganz real. Mein Urgroßvater hat es produziert und so in den Händen gehalten, wie ich es jetz hielt.

Und ich stand in dem Antiquariat und die vielen wundersamen Geschichten meiner Familie sammelten sich in meiner Hand. Der Blick auf das Foto von damals trifft auf meinen Blick heute. Geschichten wurden zu Geschichte und ich hielt sie in der Hand. Zwei Generationen später. In einer Welt ohne Kutscher, ohne Sommerhäuschen am See, ohne ein französisches Kindermädchen und ohne eine Dampflock mit der man tagelang und voller Abenteuer unterwegs war, bevor man in der Reichshauptstadt Berlin ankam.

Samstag, 9. Juli 2011

Meine Mutter und ihre Hände

Wenn ich auf sie schaue, sehe ich eine kleine und energievolle Frau vor mir. Ihre Hände sind zierlich und tätig. Vor vielen Jahren trug sie Ringe, goldene, mit blauen oder türkisfarbenen Steinen. Daran erinnere ich mich noch. Aber diese Ringe hat ihr jemand entwendet, als sie sie beim Töpfern auf einen kleinen Ringständer steckte. Es waren Erbstücke. Ob sie jetzt Ringe an ihren Händen trägt weiß ich gar nicht.

Ihre Brille trägt sie stets auf der Nase – damit sie das Leben gut sehen kann –, manchmal schief und hie und da will man ihr gerne ein Tüchlein reichen, damit sie geputzt werden könne. Ihre Kleidung ist meist in natürlichen Farben gehalten, bevorzugt in orange oder in sandiger-erde. Leinen weht ihr um die Schultern, manchmal auch Seide. Immer phantasievoll und mit Ketten aus aller Herren Länder geschmückt. Ihre Hände dürfen aber nie durch einen zu langen Ärmel bedeckt werden, das mag sie nicht.

In ihrer Wohnung gibt es viel zu sehen – von jeder Reise wurde etwas mitgebracht, mit eigener Hand. Ob Gebrauchsgegenstände wie Geschirr oder Tischdecken, oder Unikate, die an der Wand hängen oder auf dem Tisch stehen. Steine, Hölzer, Muscheln – auf der Suche nach etwas Urigem oder Originellen ist man in dieser Wohnung richtig. Man wird kaum etwas finden, was aus einem gewöhnlichen Kaufhaus stammt.

Bilder hängen an den Wänden, mit eigener Hand gemalte und fremde. Individuell gewählt, speziell positioniert und immer mit Geschichte. Ergänzt werden die Bilder durch eine Bücherwand, die die Kunstbände der Welt umfassen. Hier gibt es alles zu finden, was einen Künstler interessiert, was mit Händen gestaltet und gemalt wurde.

Originalität steht an oberster Stelle, das Eigene, Individuelle. Nichts lässt sich über einen Kamm scheren. Und so ist sie auch ihren Lebens-Weg gegangen, auf ihren kleinen Füßen, mit ihren kraftvollen Händen. Im Krieg geboren, immer wieder vertrieben worden, von Ort zu Ort – ein „Abenteuer“ als Kind, wie sie selbst es nennt. Ihre Mutter, ledig und bei ihrer Geburt bereits über vierzig Jahre alt, hat es ihr vorgelebt. Und dennoch, die Mutter, noch aus dem 19. Jahrhundert, hielt trotz allem an alten Werten fest, das war für die Tochter eine Erzählung aus einer alten Welt. „Heimat“ als vergangene, immaterielle Idee, mit Händen schwer zu fassen.

Und obgleich sich in ihrer Wohnung Fotos aus alten Zeiten finden lassen, Bilder ihrer Eltern und anderer Verwandter aus der alten Heimat Estland, ist es doch die Zukunft, auf die alles ausgerichtet ist. Einen Festpunkt in der Vergangenheit gibt es nicht, selten einen Blick zurück – was auf der Hand liegt ist die Gestaltung des Kommenden, damit lässt sich etwas unternehmen.

Und so hat sie sich ihr Leben lang für die Dinge eingesetzt, die es zu verändern, zu verbessern galt – die einfach vor ihr lagen. Ob in der Erziehung der eigenen Kinder, vorhandener Schulstrukturen, gesellschaftspolitischer Belange oder im Zwischenmenschlichen. Wichtig war immer, was mit eigener Hand vollbracht werden konnte – und dies: immer ein künstlerischer Prozess.

Ich glaube, dass sie Leere und Depression nicht kennt, alles was für sie erreichbar ist, nimmt sie in die Hand – alles andere spielt sich auf Ebenen ab, zu denen sie nicht unbedingt einen Zugang hat. Darum wird die Herausforderung für die Zukunft auch sein: etwas aus der Hand geben, etwas ablegen. Und später dann, im hohen Alter, kommt möglicherweise ein Sich-an-die-Hand-nehmen-lassen falls ihr der Alltag dann nicht mehr so einfach von der Hand geht.

Hände sprechen die Sprache des Lebens, sie zeigen, was in siebzig Jahren angefasst wurde, und weisen in die Zukunft, in der Dinge warten, die in die Hand genommen werden wollen. Diese kleine Frau, die meine Mutter ist, hat energievolle Hände, mit denen sie kraftvoll durchs Leben geht. Ich bewundere das sehr.

Samstag, 2. Juli 2011

Begegnungen. Ich und du

Ich könnte von dir erzählen. Davon, dass ich dich besucht habe und du mich mit deinen leuchtenden kleinen Augen immer wieder angesehen hast, wenn du mir eine Frage gestellt hast. Manchmal musstest du ein wenig suchen, bevor du das richtige Wort gefunden hattest. Deine Hände wussten es schon und versuchten es dann mit einer Geste zu zeigen. Aber dann fand sich das Wort und die Zusammenhänge wurden klarer. Du hast mir von einem Erlebnis erzählt, das über achtzig Jahre zurückliegt – und das dich bis heute stark beschäftigt. Mich wiederum hat das sehr beeindruckt.

Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du drei Monate lang mein Leben bereichert hast. Dass wir täglich viele Stunden nebeneinander saßen, zuletzt durch eine Wand getrennt. Wir haben viel geschwiegen und in den Momenten, in denen das Reden erlaubt war, die Themen sorgsam gesucht. Immer wieder hast du mich mit deinem rechten Auge angezwinkert – und bis heute bin ich nicht sicher, ob ich dich gut verstanden habe. Nun werden wir einander vorerst nicht wiedersehen, du reist ab, und wir werden auf geschriebene Worte angewiesen sein. Ob das gelingt?

Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass wir draußen zusammen gesessen und ein Glas Wein miteinander getrunken haben und im Laufe des Gesprächs immer mehr in den Raum des Anderen aufgenommen wurden. Du erzähltest mir von deiner Welt, aus der du gerade für ein paar Stunden ausgestiegen warst. Die klar umrissenen Ereignisse wurden über Worte vermittelt, die sich in unserem Gespräch immer weiter verflüchtigten, bis nur noch die Gegenwart anwesend war, eine eigene Begegnungswelt entstehen konnte, die über die Sprache der Worte hinausgeht.

Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du mir deine Verletzung gezeigt hast. Dass du mein Verständnis gesucht hast, ja sogar darum gebeten hast, ob ich in dem Konflikt vermitteln könne, da ich dich in die Zusammenhänge ja Einblick hätte. Und du hast mich bittend und verstört angeschaut und ich habe dich neu gesehen. So kannte ich dich nicht. Deine Empörung, ja, aber deine Hilflosigkeit – nein, die kannte ich nicht. Das hat mich berührt und hilflos zugleich gemacht. Das Ziel ist klar, aber wie gelangen wir dort hin?

Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du mich angerufen hast – was du nicht oft tust. Du hattest ein ereignisreiches Wochenende hinter dir und wolltest mir davon erzählen. Ich war schon müde, ließ mich auf das Gespräch ein und hörte deinem Bericht aufmerksam zu. Du hast Menschen getroffen, von denen du seit fünfzig Jahren nichts gehört hattest, hast alte Orte besucht und bist in deine eigene Vergangenheit eingetaucht. Am Schluss des Gesprächs hast du mich eingeladen, diese Orte einmal gemeinsam zu besuchen – was ich gerne tue.

Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass wir uns nicht mehr gesprochen haben, seit ich dir gesagt habe, was deine Worte mit mir gemacht haben. Ist es der Alltag, der Trubel, der uns in Bann zieht, oder bist du gekränkt und weißt nicht mehr, wie du mir begegnen sollst? So viele Worte haben wir in den letzten Jahren hin und her geschickt, ob im direkten Gespräch, am Telefon oder über Mail – es werden Gesten zu finden sein, die die Wege wieder bahnen, nachdem es etwas holprig war.

Oder ich könnte von mir erzählen. Davon, dass ich all jene Menschen innerhalb kürzester Zeit getroffen habe, ihnen begegnet bin. Und davon berichten, dass all diese Begegnungen etwas in mir hinterlassen haben, in mir fort wirken. Sie vermischen sich mit Vergangenem, strahlen in der Gegenwart oder leuchten in die Zukunft hinein, in der wieder neue Dinge geschehen, neue Begegnungen stattfinden, sich Wünsche erfüllen und wieder neue Hoffnungen geboren werden. Wem werde ich nächste Woche begegnen?

Freitag, 24. Juni 2011

Für meine Kinder Rosa, Fabian und Mira. Zukunft gestalten

Freunde – wohin soll das eigentlich alles führen? – zur Neugestaltung beitragen – aktuelle Generation auf diesem Planeten – heutige Bedürfnisse und Träume meiner Generation – aus vollem Herzen gerecht werden – wofür ich eigentlich eintreten möchte – woran mache ich das fest? – dich fragen – einsetzen – an das Gute – Inspiration und Halt – Arbeit am Menschen – Stellung beziehen –konstruktive Gedanken – fester Glaube – Weltuntergang – Eindrücke und Reaktionen – Visions-Fest – Zukunft in die Hand nehmen – Interessierte – geistiger Platz – im Grünen debattieren – freudvolles Zusammentreffen – inhaltlich inspirierende Momente – lockeres Fest – Mitmenschen – die Zukunft gemeinsam gestalten!

Neulich bekam ich einen langen Brief von meinem Sohn, der mich sehr beeindruckt hat. Es handelte sich um eine Einladung zu einem großen Fest. Einem Fest mit Ausrichtung. Einige der Leser dieser Zeilen werden wissen, was hier gemeint ist. Oben genannte Begriffe, Sätze und Fragen waren in der Einladung enthalten. Ich war leider nicht dort. Und ich weiß auch nicht, was entstanden ist. Aber ich trage die Fragen und Gedanken in mir und spüre in mir nach, was die Frage nach Visionen und der Aufruf „Zukunft zu gestalten“ in mir auslöst.

Ihr drei, meine Kinder, seid nun erwachsen – bald gänzlich unabhängig. Jeder von euch geht einen Weg, seinen Weg und manchmal kreuzen sich eure Pfade, unsere Pfade. Ich bin stolz auf euch. Auf jeden Einzelnen von euch. Denn ich habe das Gefühl, dass ihr das tut, was in euch steckt. Als ich so alt war wie ihr jetzt, da bekam ich euch. Ihr wurdet meine Zukunft. Damals. Für viele Jahre. Und darüber bin ich sehr froh.

Ich war jung in den Jahren, als ich eins ums andere Mal Mutter wurde. Und es war keine einfache Zeit. „Tschernobyl“ war gerade geschehen – so wie jetzt „Fukuschima“. Jahrelang hatte ich gegen Atomkraft demonstriert – war nach Brockdorf gereist und bin mitunter in einen Kessel geraten, den die Polizei um uns geschlossen hatte. Über uns kreisten Hubschrauber – ich habe das Zittern kennen gelernt. Auf den Ostermärschen für den Frieden hingegen überwog die Hoffnung auf die Zukunft. Auch, wenn sie weit weg schien. Ich war davon überzeugt, dass nur die Politik von Bedeutung sei und in die Zukunft führen könne, wenn überhaupt irgendetwas.

Meine eigene Kindheit war davon geprägt, von Politik geleitet. Der Begriff „Pershing-II-Rakete“ war damals in aller Munde. Zuvor gab es den Deutschen Herbst und davor die Studentenbewegung. In all diesen Jahren lag Angst in der Luft. Revolte. Wir waren „dagegen“. Aber als ihr kamt, änderte sich meine Blickrichtung. Es war das Ende des kalten Krieges, die politische Situation war noch angespannt – aber nicht mehr ganz so bedrohlich.

Plötzlich war Zukunft gefragt. Persönliche Zukunft. Unabhängig von allem anderen. Es spielte weniger eine Rolle, wogegen ich war, sondern eher, wofür ich eigentlich eintrat. Ich spürte die Verantwortung, euer Leben in den ersten Jahren zu gestalten. Selber in mir ein JA für die Zukunft zu finden. Ich verzichtete auf mein Studium, auf Reisen, auf große Experimente. War oft unsicher und verzagt – aber euer Lächeln, euer kindliches Glück über einen Berg Kirschen hat mir immer wieder eine freudige Gegenwart geschenkt.

In der Vergangenheit war es nicht immer leicht. Durchwachte Nächte, Krankheiten, die Nöte des Alltags. Aber ich würde nicht sagen, dass irgendetwas in meinem Leben schief gelaufen sei. Nein. Das ist es nicht. Vieles ist anders gekommen, als ich es gedacht, geplant, gewollt oder je überschaut hätte. Aber das macht nichts. Ich bin meinen Weg gegangen, wir sind unsere Wege gegangen, manchmal stolpernd, manchmal langsam – und ihr habt Laufen gelernt. Erst an der Hand, dann allein. Menschen brauchen Menschen.

Jeder kennt das: Nicht immer wollen unsere Gedanken, unsere Gefühle oder unsere Füße in die gleiche Richtung. An dieser Stelle habe ich im Laufe der Jahre gelernt Entscheidungen zu treffen. Meine Verantwortung in Freiheit in die Hand zu nehmen und selber zu bestimmen, was ich tue. Fehler sind mir dabei durchaus unterlaufen.

Die Vergangenheit bringen wir mit, tragen sie durch unser Leben – und manchmal liegt sie nicht hinter uns, sondern reicht in die Gegenwart hinein - wenn wir davon nicht loskommen. Ganz ähnlich ist es mit der Zukunft, die ja für gewöhnlich irgendwie unerreichbar vor uns zu liegen scheint. Von Zeit zu Zeit kommt sie uns entgegen und überholt uns von vorne nach hinten. Worin wir uns erleben, das ist der gegenwärtige Moment - ein elastischer Augenblick.

Wenn ich heute auf mich schaue, dann kann ich nicht umhin zu bekennen, dass mein Blick auf menschliche Netzwerke gerichtet ist. Auf Menschen, die einander darin unterstützen, selbst zu dem Geheimnis vorzudringen, dass sie in sich tragen und sich daran beteiligen, die Samen, die in jedem von uns stecken, zum Keimen zu bringen - etwas zu tun. Wie schön zu erleben, dass ihr drei über die familiäre Bindung hinaus zu einem meiner Netzwerke gehört.

Ich glaube nicht, dass ich ohne euch drei dahin gekommen wäre, wo ich heute bin. Und dafür danke ich euch von ganzem Herzen. Gespannt bin ich, wohin eure Wege euch führen, was ihr in die Hand nehmt und welchen Sternen ihr folgt. Und ich freue mich sehr, wenn sich unsere Wege dabei immer wieder kreuzen.

Samstag, 18. Juni 2011

In Bewegung. Innen und außen

[…]

Ich sitze am Steuer des Autos und fahre eine gerade Straße entlang. Es sind kaum andere Autos unterwegs, mein Blick ist auf die Straße gerichtet. Fokussiert auf meine Straßenseite, rechts wird er von einer weißen Linie begrenzt, links von weißen Streifen, die die Mitte der Straße markieren. Auf beiden Seiten der Straße ist es grün. Büsche, Wald und Wiese. Ich blicke immer geradeaus. Weil ich das Auto steuere. Meine Hände liegen auf dem Lenkrad, korrigieren kleine Abweichungen.

Meine Gedanken wandern an den Startpunkt meiner Abreise zurück. Das Haus, der Brunnen, die Menschen – sie bleiben dort, am Ort. Ich bewege mich – still im Auto sitzend – gen Süden, etwa 100 km pro Stunde. Entferne mich immer weiter. Auf meiner geraden Straße taucht plötzlich eine Ampel auf, eine rote Ampel! – kein Gegenverkehr, keine Querstraße, niemand hinter mir. Ich verstehe es nicht, aber ich bremse. Mein rechter Fuß gleitet vom Gaspedal auf die Bremse – ganz sanft, es ist nur eine kleine Bewegung.

[…]

Ich steige in einen Bus. Die Sessel sind groß und bequem. Der Bus fährt erst ab, als ich mich angeschnallt habe – das gehört hier oben im Norden dazu. Der Sitz und ich – wir gehören jetzt zusammen. Ich bin die einzige Passagierin. Lasse mich fahren und die Seele baumeln. Ich schaue aus dem Fenster. Möchte einen Elch sehen. Aber es zeigt sich keiner. Ich verlasse den Ort, der vor Kurzem noch meine Gegenwart war. Nun fahre ich meiner Zukunft entgegen, einer Zukunft, die gleichzeitig meine Vergangenheit in einer gemeinsamen Gegenwart ist.

Ich fahre über Straßen, die ich nicht kenne. Durch eine Gegend, in die mich mein bisheriges Leben noch nicht gebracht hat. Ich weiß nur den Namen der Stadt, an dessen Bahnhof ich gebracht werden möchte. Hoffnungsvoll gestimmt, dass der Busfahrer das gleiche Ziel haben möge. In meiner Tasche klingelt mein Handy. Meine Telefonnummer hat mich gefunden – obwohl ich irgendwo in der Welt bin. Eine vertraute Stimme meldet sich, fragt wo ich sei und wie es mir gehe.

[…]

Wenig später sitze ich im Zug. Lautlos gleitet er über die Schienen, fährt lange Strecken ohne Zwischenhalt. Alle Plätze rings um mich her sind belegt, die Menschen schweigen in einer anderen Sprache. Es liegt eine Ruhe über dem Waggon. Ich schaue auch jetzt aus dem Fenster. Die schnell an mir vorbeifliegende Natur lädt mich zum weiteren Träumen ein. Links das Meer, rechts der Wald. Ich sitze und schaue und träume. Innere Bilder kommen hoch, Stimmungsklänge erheben sich. Halbe Sätze gehen mir durch den Kopf – habe ich sie ausgesprochen? Oder wurden sie von meinem Gegenüber gesagt? Oder habe ich sie nur gedacht?

In der inneren Welt können schnelle Wechsel stattfinden. Die Vergangenheit verbindet sich mit der Zukunft, die Gegenwart wird zu einem großen Raum, der alle Zeitströme aufnimmt. In mir treffen Menschen aufeinander, die sich nicht kennen, sich nie begegnet sind – ich kann meine Phantasien und Träume mit realen Begebenheiten und Vorhaben einander begegnen lassen. Das Symphonieorchester der inneren Stimmungen wechselt Rhythmus, Lautstärke und Zusammensetzung.

[…]

Ich liege in einem kleinen und engen Stockbett in einem Vierbettzimmer mit drei fremden Frauen. Das Zimmerchen – besser: die Kajüte - hat kein Fenster, das sich öffnen lässt. Die Klimaanlage rauscht vor sich hin. Geld und Handy liegen unter dem Kopfkissen, mein Netbook lehnt neben mir an der Wand. Ich ziehe mich auf engstem Raum zusammen, habe kaum Platz mich umzudrehen. Unter mir schläft eine Engländerin – wir wechseln ein paar Worte miteinander. Die Stimmen der beiden anderen Frauen habe ich nie gehört – obwohl wir eine ganze Nacht gemeinsam in diesem Raum sind.

Immer wieder öffnet und schließt sich die Tür – es klappert, knistert und knirscht – Licht durchströmt die Dunkelheit. Ich döse ein, wache auf, träume – vielleicht schlafe ich zwischendurch. Neben mir im Stockbett bewegt sich jemand, stöhnt plötzlich auf und sagt ein unverständliches Wort. Wovon die anderen wohl träumen? Mit wem teile ich diese Nacht? Woher kommen sie, wohin wollen sie? Wir treffen uns auf dem Schnittpunkt der Nacht – und wissen es nicht. Ich bin die letzte, die um halb sechs in der Frühe die Kajüte verlässt.

[…]

Neben mir sitzt ein dicker, großer, roter Mann. Er nimmt mehr Platz ein, als ihm zusteht. Ich wende mich nach links, zum Gang hin. Aber da kommen ständig die Stewardessen an mir vorbei. Sie schieben den Wagen mit den abgepackten Snacks hin und her. Ich bin im Flugzeug. Kann kaum herausschauen – die Welt unter mir nicht betrachten. Ich schließe die Augen, stelle mir vor, dass wir über das Meer fliegen. Über blaues, glitzerndes Wasser. Ich kenne die Welt von oben.

Auf der anderen Gangseite sitzen Herren in Anzügen. Sie arbeiten an Laptops. Das Stimmengewirr mischt sich mit den lauten Motorengeräuschen – das Knistern von Zeitungen ist dennoch zu hören. Ich nehme mein Buch. „Montauk“. Tauche in die Welt von Max Frisch ein. Ich kenne den Inhalt. Es ist etwa 30 Jahre her. Beim Lesen kommen die alten Stimmungen hoch, die Erwartungen – von damals. Jedes Wort behält den Klang, den es beim ersten Lesen bekam.

[…]

Sonntag, 12. Juni 2011

Anna im Norden. Ruhe, Seen und Grün

Vor mir streift der Wind sacht über das blaue Wasser. Die glatte Fläche kräuselt sich leicht. Eingerahmt vom Grün der Natur spannt sich der hellblaue Himmel über mich. Es ist still hier. Sehr still. Die erfrischende Kühle des Wassers belebt meine Sinne. Dadurch kehren die unfertigen Gedanken der letzten Tage zurück, unerfüllte Aufgaben fallen mir wieder ein, das Gedankenkarussell beginnt sich zu drehen. Ich schließe die Augen. Wie kann ich den Wind, der so angenehm durch das Blätterwerk der federleichten Birken fährt, durch meinen Kopf wehen und die eckigen, kantigen und spitzen Gedanken mitnehmen lassen?

Menschen gibt es hier oben wenige. Die grüne Landschaft ist von blauen Seen und roten Holzhäuschen durchzogen. Die Geschichten von Astrid Lindgreen werden lebendig – innere Bilder werden außen vorstellbar: Bullerbü. Die Bilder von Carl Larsson zeigen sich in ihrem Ursprung. Anna erinnert sich an Estland – von dort hat sie sehr ähnliche Eindrücke mitgenommen. Die Natur wartet. Und stellt eine stille Frage an den Menschen. Aus welcher Geschichte ist sie entstanden, was war hier einmal los – und worauf wartet all das Grün?

Als Anna gestern in Stockholm gelandet ist, ist sie durch die Altstadt gelaufen und hat die neuen Eindrücke auf sich wirken lassen. Der Flug in den Norden hat sie einen Blick von oben auf das unbekannte Land werfen lassen. Seen. Grüne Wälder. Wiesen. Friedlichkeit. Auch in der Stadt geht es friedlich zu. Aber es ist mehr los, als sie gedacht hat. Hell sind die Menschen, groß und freundlich. So, wie sie das Klischee zeichnet. Der Espresso ist stark, dunkel und dick – und lässt eher an Süditalien denken. Anna taumelt durch die Menschenmenge und lässt sich von einem Schaufenster zum nächsten treiben.

Die Häuser in der Stadt sind groß und hell, Wasser gibt es auch hier viel. Es ist warm und überall laufen oder sitzen Menschen. Keine Hektik, aber die Stadt vibriert. Ein nordisches Beben ist zu spüren. Die Erde rumort. Hier geht der Wille ganz vom Menschen aus. Die Freundlichkeit des Sommers weicht der Kälte und Dunkelheit im Winter. Wille des Menschen und Kraft der Natur ringen miteinander. Immer abwechselnd. Als Anna spät in der Nacht, es ist etwa halb Zwei, an dem Häuschen, hoch oben im Norden, ankommt und aus dem Auto steigt, fliegt ihr ein weißer Schmetterling entgegen. Es sind die Mitsommernächte, die der Nacht die Dunkelheit nehmen und den Tieren den Rhythmus.

Trotz allem leuchtet der Mond dunkel gelb über dem Wald – wie ein Wächter wacht er am Himmel. Die nordische Welt versteckt sich im Sommer in der Nacht nicht, denn der Dunkelheit ist es nicht erlaubt, sich über die Geheimnisse zu legen. Alles bleibt im Dämmrigen. Es ist warm und still.

Anna kommt aus der Stadt. Sie ist Asphalt und Beton gewöhnt, laute Städte und ein Leben voller Kultur. Die stille Natur im Norden ist ihr eher unbekannt. Das Land ist ruhig und friedlich – aber auch sehr genügsam, das Grün harmoniert in sich. Die Landschaft offenbart sich nicht unmittelbar. Sie überdeckt etwas mit ihrer Ruhe Und diese überkommt Anna im Verlauf der Nacht. Sie lässt alles hinter sich. Sie spürt, dass sie ankommt. Als sie erwacht, es ist mitten in der Nacht aber immer noch fast taghell, steigen tiefe Bilder in ihr auf.

Viel Wasser kommt darin vor. Steine. Ein Strand. Schiffe. Dunkelheit und dennoch das Licht des Mondes. Männer und gedämpfte Stimmen. Gefahr in Verzug. Seile. Gefangene. Gold. Schnaubende Pferde. Eine Lichtspur. Die Sprache des Herzens. Verlust.

Als ich erwache ist es taghell. Wie immer. Der Wind weht noch immer durch die Blätter der Birken. Leises Vogelgezwitscher ist zu hören. In der Ferne sehe ich zwei Pferde grasen. Kennen sie die Geschichte des Landes, wissen sie, woher die Reisenden kamen, wohin sie fuhren? Was es mit dem Gold auf sich hatte? Ich bin am See. Und springe wieder ins Wasser. Diesmal um meine Gedanken zu behalten. Um ihnen einen Platz in mir zu geben. Ich lasse mich von der Natur aufnehmen. Für ein paar Tage.