Donnerstag, 29. Juli 2010

Worte einer Dichterin

Das Gefieder der Sprache

Das Gefieder der Sprache streicheln
Worte sind Vögel
mit ihnen
davonfliegen.

Hilde Domin in: Gesammelte Gedichte.

„Jede Entscheidung für ein Wort ist zugleich für und gegen. Diese Entscheidung ist eine automatische und doch eine bewusste. »Der Widerspruch ist der Vater, die Nachahmung die Mutter des Schöpferischen«, definiert es Benjamin. »Das Schöpferische – dem tiefsten Wesen nach Variante.« Daher gibt es kein Wort und kein Bild, das nicht neu gemacht werden kann. Man hört das bereits Gesagte mit, an dem und gegen das man sich orientiert – wobei heute der Widerspruch Stimmführer ist, in diesem Parallelogramm der Kräfte.“

Hilde Domin in: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Eine Stadt im Osten: St. Petersburg

Städte werden von Menschen geplant, gebaut, bewohnt, zerstört, verherrlicht oder verkannt. Städte entstehen nicht ohne menschlichen Willen. Die Idee einer Stadt lebt in Köpfen und Herzen, die Umsetzung einer Stadt geschieht durch die Arbeit von Menschenhänden. Städte bestehen aus Häusern und Gebäuden, Straßen und Plätzen – durch verschiedene Anordnungen und das Arrangement von Steinen, durch das Verhältnis von Natur und Kultur. Menschen prägen Städte und Städte prägen Menschen.

Peter der Große hat um 1700 eine Reise nach Europa gemacht. Er suchte Anregungen um sein Land zu modernisieren. Besonders fasziniert hat ihn die Stadt Amsterdam mit dem vielen Wasser und den dazugehörigen Schiffen. Da er nicht nur einen starken Willen besaß, sondern auch noch Macht und unerschöpfliche Mittel, wurde 1703 mit dem Bau der Stadt Sankt Petersburg begonnen. Seine Wahl fiel auf die Newa-Mündung, ein sumpfiges Gebiet am Finnischen Meerbusen. Hier entstand am Ostseeufer das offene Fenster zu Europa.

Bereits 1706 wurde St. Petersburg zur Hauptstadt des Landes, denn sie war als solche konzipiert und wurde auch als solche realisiert. Viele Tausende von Leibeigenen haben die Stadt errichtet – viel Blut ist geflossen - und der Adel siedelte sich in prächtigen Gemäuern an. Zweihundert Jahre lang haben die Zaren in St. Petersburg geherrscht, bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der russischen Bühne abtreten mussten. Es folgten Revolutionen und Aufstände, Neuorientierungen und dann 900 Tage Belagerung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sowie 70 Jahre Sozialismus.

All dies hat die Stadt über sich ergehen lassen. Auch heute noch ist sie eine prächtige Millionenstadt – die nördlichste Europas. Wenn eine Stadt einmal da ist, dann erträgt sie geduldig, was die Menschen in und mit ihr anstellen. Sie zeigt unumwunden ihre Wunden neben ihrer vergangenen Pracht. Schriftsteller wie Dostojewski, Puschkin oder Belyj erzählen die Geschichten von Einzelschicksalen – eingebettet in die Hinterhöfe der Stadt und die Intrigen der Mächtigen.

Weder im alten noch im sozialistischen Russland war es den Menschen vergönnt, ihre Individualität herauszustellen, auszuprägen, geschweige denn sie auszuleben. Die Fähigkeit sich unter- und einzuordnen kann man auch heute noch wahrnehmen, zum Beispiel im Ballett. Fasziniert bin ich den Tänzern mit meinem Blick über die Bühne gefolgt. Kein Schwan ist vom anderen zu unterscheiden, kein Tänzer vom anderen. Aber auch der Gesichtsausdruck eines Verkäufers in einem kleinen Produktui-Laden, der eines Verkäufers von Eintrittskarten, eines Busfahrers oder Bootsführers ist nicht zu entschlüsseln. Die Menschen wirken verschlossen und unnahbar – was innen geschieht bleibt verborgen.

Junge Brautpaare lassen sich an allen prominenten und erhabenen Orten fotografieren. In der Eremitage, in Peterhof oder in prächtigen Kirchen. Stolz oder hochmütig wirkt aber niemand. Man nimmt den Lauf der Dinge, und bewegt sich zwischen den jeweiligen Kulissen, die das Zentrum der Gegenwart bilden. Die russische Sprache ist allgegenwärtig, knapp dreihundert Millionen Menschen sprechen Russisch, als Tourist tut man gut daran, wenigstens die kyrillischen Buchstaben entziffern zu können um sich zu verständigen.

Die weißen Nächte im Sommer lassen die Nacht zum Tag werden. In diesen Wochen schläft kaum jemand. Die Brücken- und Uferfassaden sind in der Dämmerung hell erleuchtet und die Menschen sind in der nächtlichen Metropole unterwegs, als wenn es später Nachmittag wäre. Man sitzt, steht und läuft miteinander, trinkt, redet oder fotografiert sich. Der Newski-Prospekt – prominenteste Straße der Stadt – ist sechsspurig, und die Geschwindigkeit der an Straßencafés vorbei rauschenden Autos weit über unserer Gewohnheit. Straßenlärm und Pracht liegen nah beieinander. Ihren herausgehobenen Status wird diese Straße gewiss nicht verlieren.

Der Blick auf die zurückliegende Geschichte lässt manches der verwirrenden Zeugnisse verstehen. Als Frage bleibt, was das russische Volk vorhat. Die Stadt, die für uns im Osten und für das unermessliche russische Reich im äußersten Westen liegt, ist nicht unbedeutend, nein, hier wirken gewaltige Kräfte, die gelenkt werden wollen. Mich hat die Metropole betroffen gemacht.

Wohin geht die Reise der Stadt, werden die Russen erwachen und wird die Blüte St. Petersburg aufs Neue erblühen?

Donnerstag, 15. Juli 2010

Schicksal: Wissen, was man wirklich, wirklich will - und kann

Ein Frauenschicksal in Paris um 1900.
Camille Claudel wusste, was sie wollte. Vom ersten Moment an. Sie wurde als Bildhauerin geboren. Sie entdeckte den Ton und die Steine schon in ihrer frühen Kindheit. Es scheint, als ob sie an ihrer Berufung nie gezweifelt hätte. Schwierigkeiten hatte sie „lediglich“ mit ihrer Zeit. Mit ihrer Familie – vornehmlich ihrer Mutter – und dem großen Meister in Paris, mit dem sie sowohl fachlich als auch menschlich eine intensive Nähe verband, die jedoch tragisch zerbrochen ist. Camille Claudel konnte ihrer Berufung nur einige Jahre nachgehen. Die letzten zweiunddreißig (!) Jahre ihres Lebens war sie in einer „Anstalt“ eingesperrt und hat nie wieder Ton berührt.

Welche Umstände haben sie in dieses Schicksal geführt – und wohin führt sie ihr Schicksal beim nächsten Mal?

Ein Männerschicksal in Florenz und Rom um 1500.
Michelangelo war ein ähnliches und doch konträres Schicksal beschieden. Auch er ein (der!) berufene(r) Bildhauer und Maler vom ersten Moment an. Auch er musste gegen den Willen seiner Familie anarbeiten, vornehmlich gegen den Vater, aber es ist ihm gelungen, er hat sich durchgesetzt. Seine Ziele standen ihm immer klar vor Augen. Und dafür ist er eingetreten. Auch wenn er – schon als Meister – in die Zwänge von Päpsten geriet, immerhin hat er gearbeitet. Steine behauen - erschaffen. Ein unglaubliches Werk hinterlassen. Seine Skulpturen und Fresken überstrahlen heute die menschliche Einsamkeit dieses großen Mannes.

Was ist dieser Inkarnation vorausgegangen, dass sie so verlaufen ist und welche Umstände, Fähigkeiten und Willensintentionen mögen ihr folgen?

Wenn man diese beiden Biographien durch ihr jeweiliges Leben verfolgt, wird schnell deutlich, wie viel Wille (und Können!) darin liegt. Gerichteter Wille. Beide mussten sich mit zeitlichen, menschlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zurechtfinden – und das ist ihnen sehr unterschiedlich gelungen – aber der Wille war eindeutig und unumstößlich und so konnten ihre Gaben erblühen und irdisch ankommen. Sie waren beide Künstler. Und sie wussten, was sie konnten, was sie wollten. Oder: was sie sollten. Jedenfalls sieht das im Nachhinein und aus der Ferne so aus.

Nicht jeder Mensch wird mit so einem zielgerichteten Willen und einem daraus entstehenden Können geboren. Nein, ganz im Gegenteil. Welche Heerscharen von Menschen gibt es, die nicht so genau wissen, wozu sie hier sind, was ihr Auftrag, ihr Beitrag ist. Welcher Keim in ihnen schlummert, welche Saat aufgehen möchte. Ganz abgesehen davon zu wissen, was die Saat überhaupt braucht um aufzugehen.

Diesbezüglich scheint mir der Spannungspunkt zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu liegen. Zwischen mir und dir. Zwischen dem Individuum und dem Schicksalsnetzwerk, das ihn umgibt. Weiß ich selber, was ich will? Schaut meine Umgebung darauf, was ich kann? Beide Seiten haben Möglichkeiten Beiträge zu geben, dass der Einzelne zu dem erwacht, was in ihm schlummert und das auch handhabbar zu machen. Möglichkeiten zu bieten. Gegenseitige Unterstützung darzureichen. Einander einzuladen hervorzukommen, sich zu zeigen und dann anzukommen.

Über die berühmte Parzival-Frage: „Oheim, was wirret dir?“ habe ich schon öfters geschrieben. Die Wichtigkeit dieser Frage bleibt, sie ist der Ausgangspunkt meiner Anteilnahme am Anderen. Und ich glaube weiterhin, dass diese Frage von konstitutioneller Bedeutung für das soziale zwischenmenschliche Leben ist. Sie birgt ein großes Potential. Es gibt aber in der Parzival-Erzählung noch eine weitere Frage, die die dazugehörige Gegenseite zu der Frage an den anderen darstellt.

In seinem letzten Kampf begegnet der verzweifelte Parzival seinem Bruder Feirefiz – zunächst ohne dass sie sich erkennen. Denn sie wissen nichts voneinander. Sie kämpfen hart miteinander und so lange, bis Parzivals Schwert zerbricht. Und an Stelle dessen, dass Feirefiz nun Parzival besiegt, stellt er ihm eine Frage: „Wer bist du?“

Diese einfache Frage hat eine große Bedeutung und stellt die Gegenseite zur Frage an den Anderen dar. Parzival beginnt sich zu besinnen und etwas von sich preiszugeben. Er schaut auf sich selbst. Taucht in sich ein und eröffnet dem Anderen, seinem Bruder, einen Blick in sein Inneres. Im Mittelalter bezog sich die Antwort auf den Stand, die Herkunft etc. Ich glaube aber, dass die Möglichkeit, die in dieser Frage steckt, viel mit unserer Zeit und dem Wissen, was man wirklich, wirklich will zu tun hat. Eine Suche beginnt erst dann, wenn man den Ausgangpunkt kennt.

Denn erst nach dieser Begegnung mit Feirefiz und dem langen, langen und verzweifelten Weg dorthin, kann Parzival wider Erwarten durch Kundrie zum Gralskönig berufen werden. Was er gelernt hat ist: auf sich selber UND auf den Anderen zu schauen – Anteil zu nehmen.

Den eigenen Willen und das daraus entstehende Können zu entdecken und damit auf eine Reise zu gehen, hat mit mir selber und dem Schicksalsnetzwerk zu tun, in dem ich mich befinde. Wenn wir beginnen miteinander zu sprechen, einander davon zu erzählen, wer wir selber sind und den anderen zu fragen, womit er ringt, werden viele neue Räume geschaffen, wird die Saat gelegt, dass Blumen erblühen können.

Nicht jeder von uns ist stark wir Michelangelo oder verzweifelt wie Camille Claudel (und nicht jeder ein Bildhauer) – in jedem von uns steckt aber der Keim einer Blüte, die erblühen kann, wenn wir einander anschauen und uns anschauen lassen. Wie würde sich die Welt verändern, wenn jeder wüsste, was er wirklich, wirklich will. Und das dann auch tut.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Für Anja. Die stumme und geduldige Sprache eines Gebäudes

Ich laufe über den großen Hof und betrete das stattliche Gebäude durch den Haupteingang. Im Foyer fällt mir sofort etwas auf. Auf dem Boden stimmt etwas nicht. Da irritiert plötzlich ein Muster. Es dauert einen Moment, bis ich klar habe, was los ist. Der Boden des Foyers ist mit großen Steinplatten ausgelegt. Solchen Platten, die so aussehen, als ob ganz viele kleine Steinchen aneinander geklebt worden wären. In der Mitte des Foyerbodens fehlen drei Platten. Dort liegen andere Steine. Ein Muster. Ein Zeichen. Dort muss etwas geschehen sein. Es wird einen Grund haben. Ich kenne ihn nicht, aber ich bemerke die Veränderung.

Der zweite Eindruck sind die Wände. Es sind die gleichen, stummen, stillen Wände wie damals. Aber sie haben eine andere Farbe bekommen. Sie sind rot, gelb, grün, orange…. Dadurch sind sie irgendwie nicht mehr meine Wände. Fremd und vertraut zugleich. Waren unsere Wände nicht weiß? Die Türen des großen Saals aber nehmen mich auf. Die alten, hölzernen Türen, wahrscheinlich dunkler und speckiger geworden, haben noch immer ihre holzgeschnitzten, großflächigen Griffe. Dahinter verbirgt sich der Saal. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie wir damals oft still davor warten mussten, bevor wir eintreten durften. Frau M. war die Türhüterin. Weißt du noch?

Und nun sitze ich im Saal, ich bin nur wenige Augenblicke vor Beginn der Veranstaltung gekommen – also habe ich keine Zeit mehr, mich weiter umzusehen. Ich sitze auf der linken Seite, an der oberen Schräge und schaue auf die Bühne. Anja, genau vor fünfundzwanzig Jahren haben wir zuletzt in diesem Saal, auf dieser Bühne gestanden um uns - nach bestandenem Abitur – von unserer Schule zu verabschieden. Um in die Zukunft zu gehen. Die offene Zeit. Der Blick auf die Bühne ist so vertraut für mich, als wäre keine Zeit vergangen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander. Was damals Zukunft war, ist heute auch schon längst vorbei.

Was haben wir auf dieser Bühne nicht alles erlebt? Ich kann mich an meinen ersten Eindruck nicht erinnern. Aber es ist ein warmes Gefühl geblieben. Ich bin ja einige Jahre später gekommen als du, also nicht durch ein Blumentor aufgenommen worden – das war vermutlich deine erste Begegnung mit dieser Bühne, oder? – aber ich erinnere mich an die Gewichtigkeit dieser vielen Momente, wenn wir dort als Klasse, oder sogar allein, auftraten. Man konnte entweder von rechts kommen, aus der Richtung des Musiksaals eben, oder man musste ganz leise hinter der Bühne zur anderen Seite gehen, dorthin, wo es diesen kleinen, zum Zuschauerraum hin offenen Winkel mit dem schwarzen Flügel gab.

Als wir unser letztes Theaterstück aufführten, waren wir auch über der Bühne, dort, wo es heiß und stickig ist – von wo aus noch zusätzlich beleuchtet wurde und man hinunter schauen konnte. Und unter der Bühne war (ist?) ein Stuhllager – dieser hellen, unglaublich unbequemen und hochklappbaren Stühle, die zu meinem Erstaunen nicht mehr im Saal stehen! – und diese Holzverkleidung am Bühnenrand ist auch gestrichen worden. Er ist nicht mehr holzfarben, sondern rotbraun. Ich spüre eine gewisse Empörung in mir aufkommen. Wieso ist da so viel verändert worden? Es ist doch meine Schule! Und sie muss doch so aussehen, wie ich mich an sie erinnere…

Ich spüre eine doppelte Bewegung. Zum einen habe ich das Gefühl, dass überhaupt keine Zeit vergangen ist, dass die Zeit stehen geblieben ist, weil ich mich in dem Gebäude sofort wiederfinde, als hätte ich es gestern verlassen. Am deutlichsten lassen mich das die Treppengeländer spüren. Eine haptische Erinnerung also, die in meinen Händen sitzt. Und zum anderen habe ich das Gefühl, dass Urzeiten vergangen sind, dass sich eine längst verschüttete Zeit wieder öffnet und mit der Gegenwart verschränkt. Ich kenne kaum jemanden, sehe fast niemanden der mir bekannt vorkommt – und das ist verstörend, denn damals war die Schule mit all den Menschen, die wir kannten, doch irgendwie unser zweites Zuhause. Jeder kannte jeden! Jetzt ist es nur noch ein Ort, der Ort. Er ist geblieben und er fängt durch sein unerschütterliches Dasein sofort an, ein Gespräch mit mir zu führen.

In der Pause gehe ich über den hinteren Schulhof und setze mich auf die Treppe. Hier haben wir immer „Fangi“ gespielt. Damals, als wir noch Kinder waren. Und an diesen Hof ist auch meine erste Erinnerung geknüpft – an die du dich vielleicht nicht erinnerst, denn obwohl wir beide dabei waren, sind die Erlebnisse, die zu Erinnerungen avancieren ja sehr individuell. Als ich also neu dazukam – du warst schon vier Jahre da – und den ersten Tag in diese Schule ging, zeigte mir jemand, wo sich meine Klasse aufstellen würde. Und er zeigte auf ein Mädchen mit einem braunen geblümten Rock und einem bunten Filzhaarband. Das warst du. Und du bist geblieben. Vom ersten Tag an. Es entstand eine Freundschaft, die nun schon fünfunddreißig Jahre währt.

Ich bleibe auf der Treppe sitzen, es ist ein strahlend schöner Tag, zwischen Alter Villa, Neubau und dem Altbau – unserem Bau. Weitere Erinnerungen kommen. Die Ecken, in denen wir unsre ersten Zigaretten geraucht haben. Der Fünfecksaal, in dem ich staunend meine erste Eurythmiestunde bei Frau R. mitgemacht habe… Das Alte Lehrerzimmer, in das wir uns im Abiturjahr zurückzogen, gelitten und geschwitzt haben, verkrampft und voller Sorge saßen, als es um die Notenverteilung ging…

Und dann gehe ich übers Gelände, hinunter zum Kindergarten. Erinnerst du dich noch an die große Wiese? Und die schon damals alten Bäume? Sie stehen immer noch groß und prächtig und stolz da. Auch sie haben die Zeit überdauert. Hier haben wir auch Theater gespielt. Damals. Antigone. Wir waren Schwestern, weißt du noch? Jede Ecke des Geländes und der Gebäude bringen andere Erinnerungen hoch. Die Steine und die Bäume sprechen. Und da das Medium der Erinnerung die Sprache ist, dachte ich, dass ich dir von meinem Erlebnis schreibend erzähle.

Donnerstag, 1. Juli 2010

Zukunftsgestaltung: Berufstätigkeit und ein Hauch von Karma

Der öffentliche Diskurs über Arbeitslosenzahlen, Hartz IV Empfänger, Erwerbstätigkeit und -losigkeit, befristete oder unbefristete Arbeitsstellen und die große Angst vor der Zukunft macht es in Deutschland – und nicht nur da – möglich und nötig, tiefer in das Thema einzusteigen. Deutschland als Bildungsland ringt mit der Zukunft ihrer erwerbstätigen Gesellschaft. Wohin führt sich das Land, wohin führen wir uns? Und, „was wollen wir wirklich, wirklich?“ – wie Prof. Dr. F. Bergmann die alles entscheidende Frage immer wieder betonte.

Passend zu diesen weit um sich greifenden, in der Luft fassbaren Themen hat die Anthroposophische Gesellschaft Deutschland einen großen Kongress mit dem Titel „Zukunft der Arbeit – Karma des Berufes“ in Bochum organisiert (24.-27.6.2010). Der große Saal war bis zum letzten Platz belegt – es waren sicher 500 Tagungsteilnehmer anwesend. Mitgeteilt wurde von den Veranstaltern, dass mehr als ein Drittel der Teilnehmer nicht Mitglied der Gesellschaft seien – was positiv hervorgehoben wurde und auf die Relevanz des Themas sowie ein anregendes und kompetentes Veranstaltungsangebot verwies.

Von Donnerstagnachmittag bis Sonntagmittag wurde in und um die Waldorfschule herum in verschiedenen Gruppen und Foren über das Thema nachgedacht und geredet, alte und neue Ideen wurden ausgetauscht – viele Menschen sind miteinander in Kontakt gekommen oder haben sich kennengelernt – konträre Meinungen und Fragestellungen wurden in den Raum gestellt. Es wurde geredet & geredet, man konnte zuhören & zuhören und sich viele Gedanken machen. All dies bezog sich aber im Wesentlichen auf das Begriffsgebiet der heutigen Arbeitssituation.

Die Fragen, mit denen ich angereist war, kamen aber aus einer anderen Richtung: Wie verhalten sich Erwerbstätigkeit und Berufung zueinander? Was verbindet den Beruf mit dem persönlichen Karma? Welche Rolle spielen karmische Gegebenheiten für die Zukunftsgestaltung? Wie stehen Erwerbstätigkeit und Karma zueinander? Kann man Arbeitsämter und Jobcenter in einem Atemzug mit Reinkarnation und Karma nennen? Dass Arbeit und Einkommen keine Synonyme sind, hat sich ja schon herumgesprochen. Und auch, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein voneinander verschiedenes Karma haben.

Diese Fragen und Themen liegen meines Erachtens schon auf dem Tisch. Aber auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung wurde darüber nur sehr leise gesprochen. Auf der Bühne gab es im Plenum weder deutliche Fragestellungen geschweige denn Antworten dazu. Gesprochen wurde über das öffentliche und soziale Leben, über Unternehmer und Mitarbeiter, über Begriffe und neue Denkansätze. Und über die Neue Arbeit (Fritjof Bergmann).

Begünstigt durch das strahlende Wetter fand die Konferenz nicht nur in dem Räumen der großzügigen Schule statt, sondern auch draußen unter blauem Himmel. Der Ort bot sich an und trug das Seinige zum guten Gelingen bei. Die Tagung war gleichzeitig die jährliche Mitgliederversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschlands, was den Umstand mit sich brachte, dass die Mehrheit der Teilnehmer nicht nur grau, sondern schlohweiß war. Und an dieser Beobachtung entsteht eine Frage, die mich beschäftigt hat.

Wer war da eigentlich alles versammelt? Welche Berufsbiographien saßen da beieinander? Welche Positionen bekleideten die Anwesenden? Welche karmischen Fragen schwebten im Raum? Leicht hätte man zu Beginn der Veranstaltung fragen können, welche der Teilnehmer berufstätig, wie viele erwerbstätig oder eben arbeitslos seien? Wer von seinem Beruf leben könne, wer für seinen Beruf lebe oder wer vor seinem Beruf stehe… nur um ein Bild zu kreieren! Die Zahl der Rentner war hoch – das lässt sich nicht verschweigen – aber auch die Jugend, „unsere gesellschaftliche Zukunft“ war deutlich vertreten.

Und obgleich meine Annahme ist, dass die Teilnehmenden alle, auf die eine oder andere Weise, mit den angesprochenen Fragen zu tun haben, drohen wir im Alltag daran zu zerbrechen, wenn die großen Zusammenhänge nicht sichtbar werden. Die Karma-Frage wurde, sogar trotz Totengedenken, nur ganz marginal gestreift, was auch der Grund dafür ist, dass ich darüber kaum etwas berichten kann.

Einige der großen Männer, die sich zurzeit Gedanken über den Fortgang des gesellschaftlichen Lebens in dieser Hinsicht machen, haben auf der Bühne Vorträge gehalten, haben Gedanken und Ideen zum Thema im Raum angeboten. Der Spannungsbogen ging dabei von Götz Werner (Gründer des dm-Konzerns), der frei und erfrischend über die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens sprach, das Publikum sein Manuskript nannte und aus der Gegenwart der Anwesenden schöpfte, bis zu Peter Selg (Arzt und Autor), der über die Arbeitsethik Rudolf Steiners und das soziale Hauptgesetz sprach, und in seinem Vortrag Inhalte referierte, die aus den Ur-Schriften der anthroposophischen Bewegung kamen.

Während Herta Däubler-Gmelin (Bundesjustizministerin a.D.) über die Errungenschaften der Menschenrechte sprach und die Frage stellte, ob wir auch ein Recht auf Arbeit einzufordern hätten, hinterfragte Johannes Stüttgen (Künstler und Schüler von Beuys) die benutzten Begriffe und wies immer wieder darauf hin, dass sich die Sprache an die Gegebenheiten anzupassen habe und nicht umgekehrt. Wolfgang Gutberlet (Unternehmer) zeigte sich im Spannungsfeld zwischen Unternehmertum und Christentum. Die Beiträge dieser drei Referenten mündeten in eine wichtige Feststellung: jeder Mensch darf, kann und soll sein eigenes Leben, seine Biographie unternehmerisch angehen und künstlerisch gestalten.

Die Frage aber, wie ein Mensch seiner eigenen Berufung näher kommt, wurde nur in einem kleinen Forum gestellt. Wie wird man Unternehmer des eigenen Lebens? Was ist das Karma eines Berufes? Welche Rolle spielt der Karma- und Reinkarnationsgedanke im Berufsleben? Wie zeigen sich diese Fragestellungen auf gesellschaftspolitischer Ebene? Und wie im persönlichen Leben? Das Jugendforum war für diese gedanklichen Bewegungen offen – im Plenum wurden diese Fragen aber, bis auf die Feststellung, dass wir Reinkarnation und Karma ernst zu nehmen hätten, nicht thematisiert. So bleibt auch nach dem großen Kongress die Frage bestehen, in welchem Verhältnis Beruf und Berufung zueinander stehen und was die anerkannte Tatsache des Karmas in diesem Zusammenhang denn eigentlich bedeutet?

Kommen wir als Tagungsteilnehmer also ganz einfach zu dem zurück, was wir „wirklich, wirklich wollen“ (F. Bergmann) und gestalten unser Berufsleben so, dass es nach Möglichkeit auch unsere Erwerbstätigkeit ist. Die Organisatoren und Beitragenden der Tagung haben einen guten Griff gemacht diesen Themen Raum zu geben, sie auf den Tisch zu legen, anzuschauen und zu besprechen, die große Nachricht aber, dass Karma und Reinkarnation auch im Berufsleben und der Erwerbstätigkeit eine Rolle spielt, war mir eigentlich schon bekannt.