Sonntag, 31. Oktober 2010

Anna. Fragmente aus dem großen Ganzen.

1943. Anna bereitet sich vor.
Die Mutter versuchte das Familienleben aufrecht zu erhalten. Gebräuche, Gewohnheiten. Sie hatten es sich so schön vorgestellt. Alles war bereitet gewesen. Sie hatten so gut vorgesorgt. Aber die Welt war erbost. Kämpfe tobten. Ein Krieg wütete. Der Vater war eingezogen worden. Nun musste sie mit den beiden Jungen allein zurechtkommen. Aber sie hatte noch das Hausmädchen, die Köchin, den Gärtner. Geld war genug vorhanden. Möge der Alptraum doch schnell vergehen.

Aber es kam anders. Die Frau musste fliehen. Mit den beiden Kleinen. Laufen. Tragen. Hungern. Frieren. Angst haben. Den kompletten Absturz durchmachen. Nichts blieb ihr. Fast nichts. Aber die beiden Jungen. Sie mussten neu beginnen. Ganz von vorne anfangen. Die Jungen waren tapfer. Gemeinsam würden sie es schaffen. Der Vater kam nicht zurück.

Als Anna die Bilder von oben sah, entschloss sie sich. Noch ein paar Jahre hätte sie zu warten. Dann könnte sie kommen. Als Tochter des einen. Es würde ein neuer Ort werden. Und die Orte würden wechseln. Aber das gehörte dazu. Geschichten haben Vorgeschichten. Und Folgen. Eine Geschichte ist nicht abgeschlossen. Nie. Auch wenn es so aussieht. Manchmal verliert Anna die Übersicht. Sie denkt vorwärts und immer wieder rückwärts und manchmal verliert sie sich darin.

1972. Annas Kinderwelt.
Das Leben in der Neubausiedlung war aufregend. Immer geschah irgendwo etwas. Die grauen Klötze waren von Menschen erfüllt. Es war ein Kinderparadies - hinter den großen Häusern. Vor dem Haus war die Straße. Und ein langer Parkplatz. Dort standen die Autos aufgereiht. Straßen gehörten zu ihrem Leben. Jeden Tag wurde sie mit dem Auto irgendwohin gefahren. Auf großen grauen Straßen. Auf Autobahnen. Nach dem Krieg wurde hier schnell gebaut. Alles sollte besser sein. Vor allem die Straßen. Und die großen grauen Häuser, worin die vielen Menschen Platz hatten.

Als sie auf dem Rückweg aus den Ferien waren – sie waren unendlich weit gefahren – schauten die beiden Kinder, Anna hatte einen Bruder, auf die Straßenschilder. Wann würde ihre Stadt erscheinen? Wie viele Kilometer würden es noch sein, bis sie zu Hause ankämen? Autobahnen sind lang, sie gehen ineinander über, die Welt ist von Autobahnen durchkreuzt. Autobahnen gehören zum Leben. Ohne Autobahnen bewegt sich nichts. Alles Interessante auf dieser Welt ist über die Autobahn zu erreichen.

1995. Anna erinnert sich.
„Wie kann man in so einer schönen Wohnung unglücklich sein?“, fragte Franziska. „Du hast doch alles, was du brauchst. Könnte man je mehr wollen?“ Anna erklärte: „Es ist nicht die Wohnung, das Haus. Es ist auch nicht die Familie, die Menschen hier. Nein, alle geben sich Mühe. Es sind die Straßen die mir fehlen.“ Franziska blickte sie verständnislos an. Die beiden Frauen schwiegen. Was gab es darauf noch zu sagen. „Die Straßen? – Es geht dir nicht gut. Bist du etwa krank?“, flüsterte Franziska.

Anna sah aus dem Fenster der neuen Wohnung, des neuen Hauses. Sie war allein. Es roch gut in ihrer Küche. Ein großer Baum stand vor dem Fenster. Sie träumte durch ihn hindurch, über alle Felder hinweg. Durch die Wälder, bis zur großen Straße. Mit offenen Augen. Ausgangspunkt war ein Straßenschild. Nach rechts ging es in das eine Dorf. Links in das andere. Und in die Kreisstadt. Und dann war da noch ein kleines Zeichen. Blau und weiß. Das Zeichen für die Autobahn. Dorthin, in diese Richtung ging es zurück in die Welt. Auf die Autobahn. Über die Felder, durch die Wälder – bis zur großen Straße.


2009. Anna erlebt etwas.
Am Nebentisch sitzt eine südländisch wirkende Familie. Die Kinder scheinen völlig übermüdet zu sein, hängen mutig und schräg auf ihren Stühlen. Die anschmiegsame Frau versucht den griesgrämigen Mann aufzuheitern. Irgendetwas ist offensichtlich schief gegangen. Anna entscheidet sich innerlich weiter zu zappen. Eine andere Sendung einzuschalten. Die Geschichte nebenan scheint ihr alt zu sein. Sie braucht Aufheiterung und einen Plan. Sie will etwas erreichen. Dafür wählt sie seine Nummer.

Der Kellner bringt ihr einen weiteren Espresso. Er serviert ihr ein Croissant. Er kennt ihre Gewohnheiten. Grinst sie dabei süffisant an. „Haben sie noch einen Wunsch, junge Frau?“ Anna blickt störrisch auf ihr Gepäck. Sie will kein Gespräch. Schon gar nicht mit dem Alten. Die Klingelzeichen lösen sich in der Ferne auf. Die Mailbox antwortet.

Als Anna die vertraute Stimme hört, kommen ihr die Tränen. Sie bittet schlicht um einen Rückruf. Danach zahlt sie an der Bar bei einem anderen Kellner und geht an ihren Abflugschalter. Boarding time. Sie ist eine der letzten Passagiere. Ihre Tränen trocknen auf ihren Wangen. Sie spürt die Salzränder auf ihrer Haut. Im Flugzeug schläft sie die meiste Zeit. Verschmäht das Essen. Wendet sich nicht ihrer Nachbarin zu. Lässt ihr Gepäck in der Tasche. Und träumt vom großen Wasser. Vom großen, warmen Wasser. Einer Wasserstraße. Diesen Traum kennt sie schon. Angst und Freude vermischen sich nach dem Aufwachen in ihr. Wie schon so oft.

Im Spiegel sieht sie ein sanftes und weiches Gesicht. Schlaf umfängt es noch. Sie lächelt es an. Erst im Taxi schaltet sie ihr Handy wieder an. Sie erschrickt. 27 Anrufe. 6 Kurzmitteilungen.

Samstag, 23. Oktober 2010

Zwischen gestern und morgen. Früchte tragen eine neue Saat in sich

Sie bewegt sich in der Großstadt zielsicher. Heute. Sie fällt nicht auf. Das moderne Leben ist ihr vertraut. Sie kann Geräte bedienen. Auf dem Land ist sie selten. Ihre Füße sind nicht groß, trotzdem geht sie mit festen Schritten der Zukunft entgegen. Erledigt ihre Aufgaben. Die Einsamkeit des postmodernen Menschen nimmt sie wahr. Staunt darüber. Und sie sucht ihren Weg. Geht ihren Weg auf Asphaltstraßen. Während sie sucht und geht. Ohne zu wissen, was sie eigentlich sucht und wohin sie geht. Sie weiß nicht, was sie finden will.

Sie hatte von dem Grubenunglück in Chile gehört. Sie verfolgt das Weltgeschehen durch die Medien. Fernsehen, Zeitungen. Ist einigermaßen auf dem Laufenden. Ist bestürzt über das Gefängnis der Bergleute. Natürlich. Mitten im Berg. Und sie sollen so eine lange Zeit dort unten in der Tiefe ausharren… Eine grauenhafte Vorstellung. Sie denkt nicht speziell daran, vergisst die Männer im Berg. Es ist so viel Trubel um sie her. Sie lebt irgendwie unbewusst damit. Bei all den vielen Schreckensmeldungen, die so kommen. Sie geht ihren Tagesgeschäften nach. Was auch sonst.

In der Nacht VOR der Rettung des ersten Bergmanns hat sie einen eindrücklichen Traum. Ja, so nennt man das. Einen Traum… Sie wusste überhaupt nicht, dass da etwas anstand, denn sie war unterwegs und hatte keine Nachrichten gehört. Sie träumte, dass sie die Bergleute besucht hätte. Sie war unten. In dem Schutzraum. Sah, wie die vielen Männer in Unterhosen auf dem Boden lagen oder saßen. Sprach mit ihnen. Sie sah die Kapsel, die sie wieder ans Tageslicht transportieren soll.

Als sie aufwachte, erinnerte sie sich noch genau. Sieht heute noch das innere Bild vor sich. Sie war bei den Bergleuten. Unten. Im Schutzraum. Dort, wo sie so unendlich viele Tage verbracht haben. Sie setzt sich ins Auto und fährt los. Macht das Radio an. In den 8 Uhr Nachrichten wird mitgeteilt, dass die Rettungsaktion angelaufen sei. Tatsächlich. Heute. Dass die Kumpel gerettet werden sollen.

Und sie realisiert, dass sie das schon weiß. Sie ist gewissermaßen dabei. Viele Tausend Kilometer entfernt. Und es kommen ihr die Tränen. Weil sie plötzlich spürt, was es heißt in einer Gruppe zu sein. Aufeinander angewiesen zu sein. Dazuzugehören. Gemeinsam eine Gruppe zu bilden. Zusammen ein Ziel zu erreichen. Jeder für sich und doch alle zusammen.

Während sie über die Landstraße fährt spürt sie, wie sehr ihr Grundlebensgefühl von einer Gruppe geprägt ist. Spürt vage etwas, was in einem letzten Leben unvollständig geblieben sein muss. Gefühlsmäßig. Nicht zu Ende geführt werden konnte. Aber noch in ihr lebt. In ihrem Rucksack steckt. Und plötzlich bekommen die Ereignisse in Annas Leben eine neue Kontur. Eine andere Farbe. Die postmoderne Einsamkeit bewegt sich nicht um sie herum, sondern steckt in ihr. Die roten Äpfel leuchten noch.

Sie erinnert sich. Vage. Es war kalt und nass. Damals. So wie heute. Und Angst machte sich breit. Damals. Der Morgen schlich sich nur langsam heran und sie wusste nicht, ob sie die Zeit vor- oder zurückdrehen wollte. Sie versuchte sich an den Moment des Eides zu erinnern. Als sie sagte, dass sie den Auftrag annehmen würde. Was immer auch geschähe. Sie war durch und durch davon erfüllt gewesen.

Diese Sicherheit schien nun weit weg zu sein. In den quälenden Morgenstunden des herannahenden Tages. Damals. Ihres letzten Tages. Aber das wusste sie nicht. Der einzige Trost war, dass sie sich auf die anderen würde verlassen können. Jeder hatte den Eid abgelegt. Jeder hatte seine Aufgabe. Jeder würde für den anderen einstehen. Sie würden es schaffen. Gemeinsam.

Die Gruppe hatte ein hohes Ziel. In der zerklüfteten Berglandschaft wurde es langsam hell. Die Schatten der Nacht wichen dem herannahenden Licht. Die leisen Geräusche vorbeihuschender Tiere waren zu vernehmen, es raschelte hier und dort. Aber das machte sie nicht unruhig. Das kannte sie. Sie richtete ihren Blick auf den wilden Apfelbaum, der als Mahnmal gegen den verhangenen Himmel stand. Die vereinzelten roten Äpfel hingen wie Zeichen im kahlen Geäst. Nasse Blätter bewegten sich im Wind. Wie kurz hatte der Baum nur geblüht, damals, als es wärmer wurde, wie schnell war die Pracht vergangen. Kühle lag über dem Bergrücken. Aber die Früchte würden die neue Saat in sich tragen – das wusste sie doch.

Plötzlich ging alles ganz schnell. An verschiedenen Orten flammten die Fackeln auf. Fast zu gleicher Zeit. Das bedeutete Gefahr. Die Aufmerksamkeit war zum bersten gespannt. Spannung lag in der Luft. Gedanken flogen durch den Himmel, vibrierten in der Dämmerung – die Gruppe musste sich von Ort zu Ort verständigen, ohne einen Laut von sich zu geben. Mit Feuerzeichen. Sie weckte die Männer. Blickte zum Horizont und wusste was zu tun war. Jeder schlich in eine andere Richtung. Lautlos. Schnell. Bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg über die Bergspitzen finden würden. Die Unruhe beflügelte sie.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie ihren leblosen Körper in der Schlucht liegen. Hingegeben an die glatten Steine. Sie war abgerutscht. Allein. Hatte sich nicht halten können. Die anderen waren noch unterwegs, sie hatten ihren Tod noch nicht bemerkt. Die Geschichte nahm ihren Lauf, war noch nicht zu Ende. Aber davon würde sie nichts mehr erfahren.

Langsam wandte sich ihr Blick von der Erde ab. Wandte sich nach oben. Sie wurde begrüßt und in die himmlischen Sphären aufgenommen. Mehr wusste sie nicht davon. Als sie sich lange Zeit später wieder anschickte, auf die Erde zu kommen, begann sie die anderen zu suchen. Irgendwie. Um den Auftrag zu erfüllen. Irgendwie.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Schokoladen- und Kaffeeverbrauch. Eine Woche an der Alanus-Hochschule

Unser Kern besteht aus elf Personen. Zwei Männern und einem Schwung Frauen. Zwischen Mitte zwanzig und Mitte fünfzig. Aus ganz Deutschland angereist. Sieben ganze Tage waren wir zusammen, je zehn Stunden – oder mehr. Und einen Abend und einen Vormittag. Und wir werden uns wieder treffen. In vier Wochen. Zu einem weiteren der vorgegebenen Themen. Bildungshunger treibt uns, führt uns zusammen – die Freude daran, uns Themen zu nähern, Ideen zu teilen, Horizonte zu erweitern, Tiefen zu erkunden. In den jeweiligen Einheiten stießen Experten zu uns. In „unseren“ Raum: Semi10 – im ersten Obergeschoß.

Da kam jemand, der mit uns über Qualitätsentwicklung sprach, vornehmlich an Schulen. Mit seiner kräftigen Stimme und seinen dunklen, leuchtenden Augen führte er uns in Prozesse ein, die gewährleisten können, dass Vorhaben nicht nur Ziele bleiben, sondern tatsächlich auch durchgeführt werden können. 12 Prozesse gäbe es zu durchschreiten, jeweils in 7 Schritten. Staunend hörte ich zu, was es dabei alles zu bedenken gibt, wenn es gilt, in einem größeren Rahmen ohne Direktor zu einer Einigung zu kommen.

Und dann kam jemand, der unser Augenmerk auf das Gespräch an sich lenkte. Welche inneren Voraussetzungen braucht es für die Beteiligten, in ein wirkliches Gespräch miteinander zu kommen, was sind die äußeren Gegebenheiten, die helfend oder störend wirken? Unser Experte, ein gemütvoller und warmherziger Mensch, der uns drei Buchtitel nannte und uns ansonsten in Gespräche verwickelte, ist ein Mann, der aus Erfahrung spricht. Und so war es auch das, zu was er uns einlud: Gesprächserfahrungen zu machen.

Im Gegensatz dazu kam in manchen Nachmittagsstunden jemand, der (fast) jedes seiner Worte, die er zu uns sprach, schon vorher aufgeschrieben hatte und uns einen ganzen Haufen Papier übereignete. Strukturiert, geplant, gezielt – meine Damen, meine Herren! – bot er uns Wissen zum Thema der Selbstverwaltung, respektive Selbstgestaltung an. Da gibt es viel zu wissen, zu bedenken und klug zu changieren. Wenn eine Frage aufkam, so wurde sie stets umfassend, direkt und klar beantwortet.

Mehr der Geisteswissenschaft zugewandt, waren die Morgenstunden. Philosophische Grundfragen über Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Denkens. Reines Denken – ist das möglich? Stets makellos gekleidet, wurden wir vom Rektor in das Denken Steiners, Kants und Nietzsches zum Thema der Freiheit des Menschen eingeführt. Unsere konzentrierte Arbeit führte zu spannenden Gedankengängen. Welche Triebfeder ist es eigentlich, die uns in diese oder jene Richtung treibt, und wie ist es mit den Motiven, die Handlungen zu Grunde liegen?

Einen anderen Blickwinkel nahmen wir ein, als es um die Grundlagen des Menschen ging. Wie steht es mit den Ebenen des Denkens, des Fühlens und des Wollens – wissen wir, was wir wollen, können wir fühlen, was wir denken, wollen wir das, was wir tun? Mit sanfter aber bestimmter Stimme wurden wir immer wieder eingeladen, den fast hundert Jahre alten Text auf unsere Gegenwart herunter zu brechen und zu versuchen nachzuspüren, ob wir verstehen, was wir lesen, ob wir wissen, was wir sagen – und dann auch noch, ob das lebbar ist.

Ganz anders ging es in den eigentlich lähmenden Mittagsstunden zu. Da wurde zur Abwechslung nur wenig gelesen. Aber es war natürlich auch die Sprache, es waren Worte, um die es ging. Worte und Bedeutungen erleben, erspüren und ausdrücken. Jeder von uns wählte sich ein Gedicht und den anderen oblag es dann, dies sich bewegend, sich positionierend, sich darstellend zu verkörpern. Ein Expertenteam bemühte sich um uns – um unsere Stimmen und Betonungen und um unsere Bewegungen, unseren Ausdruck. Sie mit herber, herausfordernder Stimme und ungebrochenem Bewegungsdrang, er mit sanfter und einfühlender Stimmlage sowie einer feinen Wahrnehmung für die stimmlichen Schwankungen.

Der Schokoladen- und Haribo-Verbrauch stieg im Verlauf der Tage deutlich an – hinzu kamen unendlich viele Tassen Kaffee und ich weiß nicht, was noch alles. Hie und da kam „nach müde blöd“ – was der Stimmung immer gut tat – ein Wunder, wenn man bedenkt, aus welch unterschiedlichen Zusammenhängen wir kamen und wie anstrengend die gesamte Blockwoche war. In diesem Sinne gilt es zu verdauen, was es „essen“ gab - ich freue mich schon auf die nächste „Fütterung“.

Wer mehr erfahren möchte: Berufsbegleitender Masterstudiengang in Pädagogik. (Schwerpunkt Waldorf- und Reformpädagogik) Alanus Hochschule Alfter bei Bonn. www.alanus.edu

Samstag, 9. Oktober 2010

Liebe Christine, oft denke ich an dich...

... und dann höre ich deine Stimme, dein Lachen. Sehe dein Schmunzeln, dein nachdenkliches Zuhören, deine großen offenen Augen. Ich sehe dich, wie du neben mir am Steuer sitzt, wie wir im Kreis einander gegenüber sitzen oder wie wir in einem kleinen Grüppchen draußen stehen. Sehe, wie du rauchst, wie du einen Espresso trinkst oder ein Eis mit Sahne isst. Mein Blick ist dann rückwärtsgewandt.

Das alles sind Erinnerungen auf der irdischen, der weltlichen Ebene. Begegnungen und Sinneseindrücke die man haben kann, wenn man einen Körper hat, in einen Körper eingesperrt ist, wenn man inkarniert ist. Aber du bist nun schon fast zwei Jahre tot, „lebst“ in der geistigen Welt, hast keinen irdischen Körper mehr. Meine Erinnerungen beziehen sich auf das Hier – auf die irdische Welt. Sie wandeln sich nicht mehr, es kommt nichts Neues hinzu – es war wie es war, ich bewahre sie in meiner Innenwelt.

Was sich aber im Laufe der Zeit ändert ist die Bedeutung meiner Erinnerungen. Oft sind wir ja verschwenderisch mit Erlebnissen, gieren immer nach mehr und mehr, und erfassen die Bedeutung eines Augenblicks oft erst später – oder gar nicht. Wenn es aber plötzlich heißt, „das war es – es kommt nichts mehr dazu“, dann wird das Gesamtpanorama, und wenn es gut geht sogar die Idee des Lebens sichtbar. Vorher wähnten wir uns immer mittendrinn und dachten, dass noch viel geschehen werde…

Zukunft entsteht aus der Vergangenheit. Zukunft hat Vergangenheit. Das besagt auch ein schöner Filmtitel: Die Zukunft braucht ein altes Herz. Das Herz als Sinnbild für Integration des scheinbar Gegensätzlichen, des Unzusammenhängenden, des Zufälligen. Des Unsichtbaren, Geheimen oder Unaussprechlichen. Es war ein Herzinfarkt, der dich sterben ließ, der dir in der geistigen Welt einen neuen Geburtstag verschaffte. So plötzlich, so unerwartet – und doch so „stimmig“, irgendwie evident.

Wir waren uns in den Jahren, in denen wir uns immer wieder begegnet sind, in denen wir zusammen gearbeitet haben nah und fern zugleich. Wir waren sehr verschieden – und vielleicht deshalb so fasziniert voneinander. Einmal habe ich dich in Lyon besucht, habe gesehen, wo und wie du lebst, wo und wie du arbeitest, habe deinen Lebensraum kennengelernt. Und auch du warst einmal bei mir. Damals hatte ich noch kleine Kinder. Meistens aber haben wir uns an anderen Orten getroffen – dort, wo wir zusammen gearbeitet haben.

In meiner Gegenwart tauchst du oftmals unvermittelt auf. Plötzlich bist du da, sehe ich dich. Es sind keine „großen“ Botschaften, die ich erkennen kann, aber Präsenz. Und so versuche ich manchmal durch deine Augen zu schauen. Was würdest du wohl zu diesem oder jenem sagen? Ich war auf deinen Abschied nicht vorbereitet – damals. Und das geht mir irgendwie nach. Gibt es etwas, was ich verpasst habe? Mein Blick ist vorwärts gewandt.

Unser gemeinsames Anliegen, an einer „christlichen Infrastruktur“ oder einer „Kultur des Herzens“ oder einem „neuen Jerusalem“ mit zu bauen, geht seine Wege. Hier auf der sichtbaren, fühlbaren, erlebbaren Erde. Schon zu deinen Lebzeiten hatten wir uns vereinzelt, war die Gemeinsamkeit nicht mehr ausnahmslos fruchtbar. Und so steht es noch, die meisten der gemeinsamen Freunde, Mitarbeiter und Weggefährten sind ferne Freunde, nur noch erahnbare Mitarbeiter und selten sichtbare Weggefährten - jeder arbeitet an seinem Ort, mit seinen Möglichkeiten.

Dein Stern aber, leuchtet aus der geistigen Welt immer wieder zu mir herunter – und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Wie schön, dass du hier auf Erden warst, Christine