Montag, 27. April 2009

Über das Buch „Heimsuchung“ von Jenny Erpenbeck

Liebe Christiane,
vor zwei Wochen hast du mir das oben genannte Buch mit der Bitte geschenkt, dass ich dir nach meiner Lektüre darüber berichten möge, was ich von dem Buch halte.

Ja, wie finde ich dieses Buch, was macht es mit mir? Ich habe es gelesen und bin verstört. Das ist zwar kein angenehmes Gefühl, aber die Leistung dieses Buches. Immerhin. Bücher – also Erzählungen und Geschichten - sind nicht immer Balsam für die Seele, angenehm, leicht oder voller Sonnenschein, obgleich manch einer von uns sich das sicher immer wieder wünscht. Ich werde versuchen zu beschreiben, warum mich das Buch verstört hat. Zunächst aber ein kleiner Überblick über den Inhalt – für all diejenigen, die ihn nicht kennen.

Der Protagonist des Buches ist ein kleines Häuschen an einem See in Ostdeutschland, ein scheinbar unscheinbarer Ort. Und im Verlauf des Buches erfahren wir von zwölf verschiedenen Menschen, oder auch menschlichen Konstellationen, die dieses Häuschen bewohnen, durch es hindurchziehen. Auf dem Klappentext ist zu lesen: „zwölfmal gewonnene, zwölfmal wieder verlorene Heimat – zwölf Lebensgeschichten eines deutschen Jahrhunderts […]“ Wir wandern durch die deutsche - bittere und schwierige - Geschichte. Aber weder chronologisch, noch gefällig. Sondern fragmentarisch, bruchstückhaft. Verbindende Elemente sind Wort- und Satzwiederholungen, sowie die immer wieder auftauchenden Kapitel über den „Gärtner“, der das Grundstück - offensichtlich durch die gesamte Zeit hindurch - pflegt.

Jedes Mal, wenn ich mich in ein Kapitel hineingelesen hatte, riß der Faden wieder ab. Das ist der Stil des Buches. Es werden Fragmente vorgestellt. Für den Leser ist es also in diesem Buch nicht möglich, sich an eine Person oder eine Figur zu halten, mit ihr mitzuleben. Nein, Konstanz bietet „nur“ das Häuschen. Und auf die Sprache eines Steinhauses zu hören ist zunächst eine ungewöhnliche Tätigkeit. Es gibt keinen expliziten Satz, in dem davon berichtet wird, was das Geschehen mit dem Gesamtgebäude macht, implizit jedoch entsteht eine besondere Aura die einen Flecken Erde mit einem Haus präsentiert, das aus den unterschiedlichsten Steinen zusammengefügt ist.

Mir scheint es so, als ob die einzelnen Steine des Gemäuers gerade aus den erzählten Lebensfragmenten bestehen. Fraglich bleibt, wie diese Fragmente miteinander verbunden werden, wie die Erzählung sich in sich und mit sich selbst verbinden lässt. Gefällige Verbindungsstücke liefert die Autorin in ihrem Text nicht.
Aber so, wie graphisch gesehen das Buch aus vielen Absätzen besteht, die die Steine bilden, bleibt für den Leser die Aufgabe, die Verbindung der losen Fragmente herzustellen. Und so eine Verknüpfung lässt sich nur mit sich selber herstellen – und auf diese Weise wird der Leser zum Haus, wenn er in das Geschehen hineinkommen will.

Es bleibt also nur die Möglichkeit eine ungewöhnliche Lese- und Identifikationsperspektive einzunehmen, nämlich, sich in den steinernen Protagonisten einzufühlen. Er ist die nebensächliche Hauptperson. Menschen gehen ein und aus. Suchen ihr Heim. Verweilen längere oder kürzere Zeit, sind glücklich, zufrieden, ängstlich oder aufgeregt. Jung oder alt, Mann oder Frau. Intentionen werden mitgeteilt – oder auch nicht, manchmal die Vorgeschichte, eigentlich nie das, was danach kommt. Obgleich das Geschehen zwar durch eine längere Zeit erzählt wird, ist innerhalb der Handlung immer Gegenwart. Und das produziert auf der einen Seite das Gefühl eines ewig langen Zeitraums. Eben jenes Zeitraums, das einem Haus zugemessen werden kann. Auf der anderen Seite wird aber die jeweilige Momentaufnahme, die Episode, die die Menschen in diesem Heim entstehen lassen, in den Vordergrund gehoben.

Diese Momente, ja Momentaufnahmen wie Fotographien sind es, die die Spannung erzeugen und den Leser konfrontieren. „Heimsuchung“ heißt das Buch – und es suchen nicht nur Menschen ihr Heim, sondern das Haus sucht sich selber. Die Menschen können es nicht mehr. Heimat lässt sich nicht durch ein paar Steine, einen See und einen Garten herstellen, sondern nur aus einem selbstgeschaffenen Innenraum. Und so bleibt, am Ende der Erzählung eine Grube, in der einmal ein Haus gestanden hat.

Mich hat das Buch verstört, weil das Haus zerstört wird.

Sei herzlich gegrüßt!
Sophie

Montag, 20. April 2009

Schicksalsverknüpfungen I. Parzival und Anfortas

Die beiden kennen einander vorerst nicht, haben aber miteinander zu tun. Und das nicht nur qua Verwandtschaft – der eine ist Onkel, der andere Neffe – sondern durch ihr miteinander verknüpftes Schicksal. Um aber ihr eigenes Schicksal zu leben, brauchen sie den jeweils anderen.

Offenkundig geht es in der Geschichte von Parzival auf einer Ebene um die Erlösung von Anfortas. Untergründig spielt die „Bestimmung“ der beiden, ihr „Basiskonflikt“, ihre Konstitution, schlicht der Faden ihres Schicksals mindestens eine genau so große Rolle, wie die Heilung durch „die Frage“.

Was ist ihr Konflikt, wie finden und lösen sie ihn?

Anfortas kommt auf die Tanzfläche des Geschehens, als Parzival nach Munsalvaesche kommt. Und er tanzt in diesem Saal überhaupt nicht, denn, Anfortas ist ganz und gar Wunde. Er wird als alter, dahin siechender Mann geschildert, der an seinen Schmerzen zu zerbrechen droht. Schwach liegt er auf seinem Lager und hofft, dass er erlöst wird. Entweder in dem er sterben darf, oder in dem er geheilt wird.

Anfortas ist Gralskönig. Ein leidender, kranker Gralskönig. Durch den frühen Tod seines Vaters Frimutel (der wiederum Sohn von Titurel ist) wird er, als ältester von fünf Geschwistern (Trevrizent, Herzeloyde, Repanse de Schoye und Schoysiane) als Gralshüter bestimmt. Zu seinem Amt gehört es, auf die Inschrift des Grals zu warten, welche Königin an seine Seite gehört. Aber der Gral schweigt. Anfortas setzt sich darüber hinweg, richtet seinen Blick auf die rothaarige Schöne und der Konflikt entbrennt.

Anfortas sucht das Leben. Und zum Leben gehört die Sinnlichkeit. Orgeluse, die geheimnisvolle Verführerin, ist das Ziel von Anfortas Begierde. Und dafür wird der König bestraft. Verwundet in seiner Männlichkeit und nicht mehr tauglich, das Gralsvolk zu führen. (Und auch Orgeluse wird tief verletzt – aber das ist eine andere Geschichte.)

Parzival hingegen ist ein junger, unwissender, naiver und fröhlicher Geselle. In seiner Einfältigkeit „verschlägt“ es ihn in die Gralsburg – und er weiß von nichts. Was er sucht, ist ein Lager für die Nacht. Und so erlebt er staunend und schweigend das Geschehen, bis er diesen wundersamen Ort am nächsten Morgen verstört verlässt.

Parzival ist in der Einöde aufgewachsen, seine Mutter Herzeloyde hat versucht ihn von der Welt fern zu halten. Aber er sucht die Welt – und findet sie auch. Anders als Anfortas. Während der Ältere „wusste“, was er tat, ist Parzival mit Unwissenheit geschlagen. Er folgt seinem Herzen, lebt einfach, macht Erfahrungen und versagt. Parzivals Konflikt entfaltet sich durch seinen eingeschränkten Blick.

Bei ihm ist es der Schmerz des Versagens auf der Gralsburg und der Schmerz über die Getrenntheit von seiner Frau Condwir amurs, was ihm das Leben schwer macht. Methaphorisch gezeigt in der berühmten Blutstropfenszene. Parzival leidet. Nicht minder als Anfortas. Bei Anfortas ist es der physische Schmerz, Parzival leidet seelisch, ihm ist das Leben zur Wunde geworden, ein Riß ist entstanden – wie Muschg es im „Roten Ritter“ so schön beschreibt.

Parzival bekommt eine zweite Chance, denn die Gralsbotin Kundry führt ihn auf die Burg. Das heisst, dass sich die Schicksalsfäden der beiden ein weiteres Mal kreuzen und es ist gerade die Begegnung dieser beiden Figuren, durch die sie erlöst werden. Der äußerlich strahlende Held steht vor dem verwundeten Mann und stellt die Frage der Fragen: Oheim, waz wirret dier?

Beide wußten nur wenig davon, wie sie ihren eigenen Knoten würden lösen können, und deutlich ist, dass der Eine den Anderen braucht. In der Begegnung lockert sich das Geflecht und ein neues Muster kann entstehen.

Parzival steht in seiner Betroffenheit, ob seines früheren Versagens und des damit verbundenen Leides, weinend vor dem halbtoten Gralskönig Anfortas. Sie schauen einander an und Parzival stellt die erlösende Frage. Es ist das Mitleid, durch das sie erlöst werden, das Teilnehmen am Anderen, das Interesse, die warme Schale, die sich zwischen ihnen bildet. Denn auch Parzival wird erlöst, von den Wunden, die er sich und anderen zugefügt hat. Die Verknüpfung des Schicksals zwischen Anfortas und Parzival findet in diesem Moment ihre Bestimmung und Erlösung.

So werden aus den Wunden Wunder. Und aus dem Schmerz die Kraft, die es den beiden ermöglicht, das eigene Schicksal – mit all den Fehlern die sie gemacht haben - anzunehmen. Wie ein geknüpfter Teppich, der die verschiedenen Lebenswege miteinander verbindet, stehen die einzelnen Figuren in einem großen Schicksalsnetzwerk. Schmerzen und Wunden sind Knotenpunkte im Geflecht des Lebens.

Mittwoch, 15. April 2009

Die Frisörin und die Fremde. Gedanken über Heimat.

Schon fast mit einer etwas mitleidig klingenden Stimme fragte die Frisörin sie, ob sie denn über die Osterfeiertage in die Heimat fahren würde. Sie glaubte nicht richtig zu hören – in die Heimat? Immer wieder fiel sie durch ihre Sprache auf – man nennt es Hochdeutsch – und so überlegte sie verwirrt: in die Heimat, ja, fährt sie in ihre Heimat? Das Wort, fast ein Fremdwort in ihrem Sprachgebrauch, hatte wenig mit ihr zu tun.

Ihre Gedanken begannen sich zu bewegen. Was löst das Wort Heimat aus? Heimat kann sich auf einen Ort beziehen, auf die Sprache (besonders im Ausland, also auch in Süddeutschland…) und auf Menschen. Dort, wo man sich zu hause fühlt, da ist Heimat. Ist das so?

Eine ihrer Großmütter kam aus Estland – sie musste ihre Heimat verlassen - und die andere aus Böhmen – auch sie musste ihre Heimat verlassen. Beide gehörten zu den „Vertriebenen“ nach dem Krieg. Als Kind hat sie ihre Großmütter ganz selten einmal über die „verlorene Heimat“ sprechen hören. Immer war Wehmut dabei. Und Liebe. Und es war in beiden Fällen so, dass es ganz ausgeschlossen war, dass es möglich sein könnte in diese verlorene Heimat einmal wieder zurückzukehren. Heimat war unerreichbar. Und irgendwie vorbei. Fast wie aus einem anderen Leben. Aber gleichzeitig schien Heimat kostbar, wertvoll und wunderschön.

Von ihren Eltern kannte sie diesen Begriff nicht. Irgendwie kam der nicht vor. Wohnorte, Städte, ja sogar Länder waren variabel. In diesem Sinne gab es auch kein heimatliches Haus. In wie vielen Wohnungen hatte sie schon gelebt? Ein einziges gab es in ihrem Leben, in das sie immer wieder fahren konnte. Es war das Haus ihrer Tante – auf Sylt, direkt am Deich. Dort war sie über all die vielen bewegten Jahre immer wieder hingefahren. Schon als kleines Kind und auch als Erwachsene mit ihren eigenen Kindern, die nun wiederum auch schon erwachsen waren. Aber auch dieses Haus sollte jetzt verkauft werden. Nun ging also das einzige Haus, mit dem sie den Begriff „Heimat“ auch nur annähernd in Verbindung bringen konnte, auch noch verloren.

Die Frisörin hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihre Kundin etwas wortkarg war… Sie schnitt ihr die Haare, sprach über das Wetter, die Stadt und schaute ihr manchmal durch den Spiegel ins Gesicht. Die Kundin fühlte sich beobachtet. Ihr wurde es etwas unbehaglich zumute, denn sie verfolgte innerlich die Frage wo ihre Heimat sei und fühlte sich dabei beobachtet.

Was die einheimische Frisörin wohl über sie dachte?
Sie fühlte sich manchmal zu hause. Ja auch an Orten, die sich wohl nicht „Heimat“ nennen können. Sie konnte sich in sich selbst zu hause fühlen, ja und in Häusern, in Städten, in Gegenden, aber besonders in Momenten. In Situationen. Mit Menschen. In Menschen. Ja, daher kannte sie das Gefühl. Sich heimatlich, aufgehoben fühlen.

Und sie dachte weiter. Ihr kamen die verschiedenen Geistesströmungen in den Sinn. Für einen Aristoteliker, der seine Aufmerksamkeit mehr „auf die irdischen Dinge“ lenkt, müsste es doch einfach sein, „Heimat“ zu erleben. Heimat in Dingen. Das lässt sich doch organisieren, oder? Zum Beispiel in Gebäuden. Ein heimatliches Haus gibt Schutz. Und wie ist das dann für Platoniker? Ihre Aufmerksamkeit richtet sich primär auf das Geistige. Dann muss es auch eine geistige Heimat geben.

Die Frisörin erzählt plötzlich - als wenn sie die inneren Fragen der Kundin gehört hätte - dass sie „von hier“ käme. Schon immer. Sie lebe in ihrem Elternhaus. Schon immer. Und sie mag die Gegend. Schon immer. Das ist ihre Heimat. Die Heimat zu verlassen, das könne sie sich gar nicht vorstellen…. Ja, denkt die Kundin – so eine Frage kennt sie gar nicht. Die Heimat verlassen? Dazu muss es ja erst einmal Heimat geben….

Viele Menschen reisen, suchen „ihren Ort“ und fragen sich wo sie hingehören. Auch in Tätigkeiten kann man sich natürlich zu hause fühlen – oder eben auch gar nicht. Als sie aus dem Frisörgeschäft kommt fühlt sie sich fremd, sie ist verwirrt. Sie gehört dort nicht hin. Sie fällt auf. Nicht physisch, aber sprachlich. Sie ist „nicht zugehörig, heimatlos“.

Mittwoch, 8. April 2009

Il Magnifico und die Fortführung seiner Arbeit. Ein Schicksalsnetzwerk.

Wenn ich heute durch die Altstadt von Florenz laufe, sind es weitgehend die gleichen Steine, über die auch die Menschen vor über fünfhundert Jahren gegangen sind, die gleichen Paläste, Burgen und Häuser, ja das Stadtbild hat sich, trotz der langen Zeit, kaum verändert. Es scheint so, als ob die Stadt auch heute noch darauf wartet, dass das, was damals entstanden ist Früchte trägt.

Was wir heute neben den Gemäuern mit ihrer speziellen Aura zur Verfügung haben, sind die Aufzeichnungen, Beschreibungen, Dichtungen und Briefe der Menschen, die sich um das ungekrönte Herrscherhaus der Medicis am Ende des 15. Jahrhunderts versammelt haben. Und es ist erstaunlich, was sich alles rekonstruieren lässt. Namen können genannt werden, Ereignisse, Verhältnisse, ja das Leben, Leiden und Lieben lässt sich nachvollziehen.

Lorenzo, genannt il Magnifico, war der Mittelpunkt. Uneingeschränkt. Nicht nur Kraft seines Amtes, seiner finanziellen Mittel und seines politischen Geschicks, sondern, weil er die Zeichen seiner Zeit verstanden und umgesetzt hat. Obwohl es heißt, dass Lorenzo hässlich anzusehen war, scheint es, dass er ein wunderbarer Liebender war, der seine Gefühle und Sehnsüchte auch als Dichter zum Ausdruck bringen konnte. Ausserdem hatte er einen Zugang zu philosophischen Fragen, feierte gerne Feste, unterstützte die Künste jeglicher Art und schenkte der Stadt eine blühende Zeit. Dank seines Großvaters, Cosimo Pater Patriae, hat er schon in jungen Jahren ein sensibles Gespür dafür entwickelt, was der Zeit Not tat. Von seinem 21. Lebensjahr an übernahm er für die folgenden 21 Jahre die Geschicke der Stadt.

Die Zeit war geprägt vom Aufbruch, Neues wurde möglich und vieles geriet in Bewegung. Schon Cosimo hat die Platonische Akademie aus der Taufe gehoben und Lorenzo hat das Kind gepflegt. Kein geringerer als Marsilio Ficino hat begonnen, die Platon-Texte zu übersetzen. Um ihn fand sich ein Kreis von Philosophen und Gelehrten, schlicht Menschen mit offenen Herzen und geistigem Hunger, die begannen die Welt neu zu sehen, neu zu verstehen. Angelo Poliziano war dabei, Pico della Mirandola, Christoforo Landino und viele andere. Auch der Bildhauer, Maler, Künstler und Architekten gäbe es viele zu nennen.

Interessant ist, dass sich die Männer, denn von den Frauen wissen wir nicht viel…, in verschiedenen Positionen, Rollen und Verhältnissen begegneten. Der eine war dem anderen nicht nur Lehrer, sondern gleichzeitig Geliebter, Untergebener, Erzieher seiner Kinder oder gar Diener, Beichtvater, „Kollege“, Mäzen, Freund, „Möglichmacher“ oder einfach herzlich zugeneigter Mitmensch. Lorenzo konnte „sehen“, er hat es geschafft, vielen seiner Mitmenschen die Entfaltung ihres Potenzials zu ermöglichen.

Was „Florenz“ damals nicht konnte, war Krieg führen. Lorenzo war kein Mann der Waffe. Diplomatisch ging er vor – il Magnifico selbst begab sich in die Fänge des Königs von Neapel um den Zwist mit dem Papst zu beenden. Obwohl tief christlich veranlagt scheute er auch die Exkommunikation nicht. Das menschliche Wort bekam eine neue Bedeutung.

Zu seinen Lebzeiten gelang all dies. Heute ist sein Sterbetag – Lorenzo starb 43jährig am 8.4.1492 nahe Florenz in seiner Villa in Careggi. Nach seinem Tod nahm die Geschichte ihren Lauf. Pico und Poliziano wurden ermordet (von Ficino?), Michelangelo geriet in die Fron des Papstes, Lorenzos Sohn und Nachfolger Piero unterwarf sich dem französischen König, Savonarola begann sein Unwesen zu treiben. Das Schicksalsnetzwerk bröckelte auseinander, der Mittelpunkt fehlte.

Physisch können wir heute nur noch zwischen den toten Steinen umherstreifen, aber ätherisch ist der Kreis der Humanisten nah, denn sie suchen ihre eigene Fortführung – und geistig gilt es weiterhin um die Vereinigung des Platonischen mit dem Aristotelischen zu ringen.

Neue Schicksalsnetzwerke dürfen entstehen um das Werk forzuführen. Jeder von uns kann dabei sowohl Mittelpunkt als auch Knotenpunkt sein, jeder an seinem Ort, mit seinen Themen und seinen Gefährten. Einander sehen, hören, unterstützen und Wege bereiten. Jeder als „Bildhauer“ seines eigenen Lebens und durch die Unterstützung des Anderen.

Lorenzo il Magnifico hat seinen Beitrag gegeben – jetzt, so scheint es, sind wir dran.

Sonntag, 5. April 2009

Tübingen. Anfang und Ende der Welt.

Als Kind kam ich immer von Norden. Mit dem Zug. Und weil die schnellen Züge in Stuttgart entweder nicht weiterfuhren, oder in andere Richtungen abbogen - warum fahren eigentlich nicht alle Züge nach Tübingen? - holte mich meine Großmutter immer schon dort ab und wir fuhren dann den Rest der Strecke zusammen mit einem langsamen Regionalzug, der in der kleinen schwäbischen Universitätsstadt tatsächlich seine Endstation hatte. Tübingen war das Ende der Welt. Dahinter gab es nichts mehr. Das machte auch der Berg mit dem Tunnel nahe dem Bahnhof deutlich, von dem meine Großmutter sagte, dass es dahinter nichts mehr gäbe. Ungefähr so, als ob die Welt dort zu Ende sei. Nach Tübingen gibt es nichts mehr. Aber das war auch nicht schlimm. Denn mein Ziel war ja Tübingen. Ich kam von Norden und immerhin reichte die Welt bis Tübingen. Dass der Busbahnhof „Europaplatz“ hieß kam mir schon damals irgendwie gewagt vor.

Aber sie war da, diese kleine Stadt, in der ich von meiner Großmutter verwöhnt wurde und in der es ein Schloss gab, eine Altstadt und viele Fachwerkhäuser. Es gab dort „Schleckerle“, den kleinen Süßigkeitenladen an der Ecke, in den wir immer wieder gingen, und in dem ich mir die wunderbarsten Süßigkeiten aussuchen durfte. Englische Weingummis, Karlsbader Oblaten. So etwas gab es im Ruhrgebiet, wo ich her kam, nicht. Und mein Bruder und ich durften uns etwas zu essen wünschen, - sogar bürgerliche Hausmannskost! - ganz so, wie es bei den Bilderbuch-Großmüttern ist. Die Welt war anders in Tübingen, als ich es gewohnt war - es gab zum Beispiel einen Spielzeugladen - Dauth - in dem ich meine erste - heißersehnte - Plastikpuppe bekam! Damals sehr modern. Allerdings hatte meine Großmutter dann einen heftigen Streit mit meinen Eltern auszufechten… Ich nannte sie Sascha, meine Puppe. Ich fand den Namen so schön und wollte gar nicht einsehen, dass das ein Jungenname sein sollte… Tübingen mit seinen verwinkelten Gässchen, seinem Kopfsteinpflaster und der alten großen Kirche. All das gehörte unmittelbar zum Flair meiner Großmutter. Ihre Wohnung lag an der großen Mühlstraße - der Hauptstraße des Städtchens - über dem Schreibwarenladen Betz. Dort, in ihrer Wohnung fühlte ich mich aufgehoben. Nichts war so wie zu Hause, es gab Schränke mit Glasscheiben davor, Geschirr für besondere Anlässe, Vorhänge die zugezogen wurden, ein richtiges Wohnzimmer mit einem großen Sofa - schlicht eine Ordnung, in die ich mich hineinfallen lassen konnte, ohne, dass sie die meine war.

Manchmal gingen wir die Mühlstraße hinauf, bis zum Lustnauer Tor und dort, so sagte meine Großmutter, fing das Leben der Studenten an. Ich verstand wohl auch, dass die Straße an dieser Stelle ihren Namen wechseln musste, nun hieß sie plötzlich Wilhelmstraße. Bestimmt gab es einen wichtigen Wilhelm, von dem ich auch erfahren würde, wenn ich groß wäre… Dort also ging es anders zu, studentisch eben - what ever that could be. Als Kind stellte ich mir lange vor auch einmal dort zu studieren. In diese großen und erhaben aussehenden Gebäude zu gehen, um mich dort belehren zu lassen….

Viele Jahre hat es gedauert, bis ich wieder nach Tübingen kam. Diesmal von Süden. Und mit dem Auto. Tatsächlich geht die Welt also hinter Tübingen noch weiter - nicht so gewichtig natürlich, aber immerhin. Ich komme von Süden und Tübingen avanciert zum Anfang der Welt, zum Anschluss an die Welt. Der Welt der Universität. Des Wissens. Der Erkenntnisse und kulturellen Ausgangspunkte… An jedem Studientag fahre ich die Mühlstrasse hinauf, am Schreibwarenladen Betz vorbei, übers Lustnauer Tor hinaus - und die Wilhelmstraße entlang. Mich empfängt - wenn man das so nennen darf - ein anderes Gebäude, die Neuphilologische Fakultät - der Brechtbau eben. Keines der alt-ehrwürdigen Gebäude, sondern ein Betonklotz aus den 70er Jahren. So ein Gebäude eben, wie ich es aus meiner Kindheit kenne. Die Neubau-Hochhaus-Siedlung aus grauem Beton war schließlich mein Zuhause…

Hier im Brechtbau empfängt mich keine Herzlichkeit - nein, es ist der Drang nach Wissen, der mich getrieben hat, mich in solch einem grauen, kalten, kahlen, unpersönlichen und formalen Gebäude länger aufzuhalten. Sehr praktisch alles. Aber, vollkommen unbewohnt. Die Menschen strömen ein und aus, keiner gestaltet hier, sondern ein jeder zieht sich zusammen und beschränkt sich auf die Vorhaben die ihn leiten. Und dennoch, in den überfüllten Hörsäälen, die mit Neonlicht ausgestattet sind und den Charme der Postmoderne auf groteske Weise nach außen kehren, lassen sich Gedichte vernehmen. Es wird über Prosa gesprochen. Autoren werden durch ihre Worte sowohl lebendig und zu Zeitgenossen - als auch als tot beklagt. Dramen werden zerpflückt und analysiert. Ideen und Gestalten tauchen auf. Walter Benjamin erscheint, Rilke lässt seine Stimme erklingen, mittelalterliche Epen lassen sich entschlüsseln. Linguistische Fragestellungen streifen mein Ohr, Kulturtheorie - was ist das schon wieder? - Literaturwissenschaft und viele, viele neue Worte suchen ein Zuhause in mir. Wie gut dass es den Duden gibt…

Wie konnte ich leben, als ich von all den Dingen noch kaum etwas wusste, geschweige denn die Worte verstand? Geschichte berührt mich, philosophische Fragen - ist es wichtig zu wissen, was Kant wirklich gesagt hat? und, wie war das mit Platon und seiner Ideenwelt? - sozial- und erziehungswissenschaftliche Themen tauchen auf, Sprachen gilt es zu verstehen und Texte zu schreiben. Es werden Noten verteilt - und eine große Anonymität trägt die studentische Woge von Semester zu Semester. Menschlich ist das schon speziell - ich glaube, ich war noch nie so sehr auf mich gestellt - aber das war auch das Geschenk, dieser Studentenjahre in gehobenem Alter…

Ob ich das wohl alles mitgemacht hätte, wenn es das Tübingen meiner Kindheit nicht gäbe? Meine Großmutter, nun auf dem Bergfriedhof, blieb immer in meiner Nähe. Ihr verdanke ich Tübingen. Mein Tübingen, Anfang und Ende der Welt in einem.